London. Nach dem Feuer im Grenfell Tower steigt die Zahl der Toten. Die Überlebenden beginnen derweil Fragen zu stellen. Ihr Zorn wird größer.
Jetzt musste die Queen ran. Elizabeth II. besuchte am Freitagmittag zusammen mit ihrem Enkel Prinz William die Unglücksstelle in West-London, wo in der Mittwochnacht der Grenfell Tower ausbrannte. Das Inferno forderte mindestens 30 Menschenleben. Die Opferzahl kann sich noch deutlich erhöhen, wenn erst einmal die Bergungsarbeiten in der Bauruine beginnen können.
Tags zuvor war die Premierministerin Theresa May in Nord-Kensington erschienen, aber hatte sich nur mit Rettungskräften unterhalten wollen und darauf verzichtet, Anwohner und Betroffene zu treffen – aus Sicherheitsgründen, wie Downing Street verlautete. Das trug May viel Kritik ein. Sie solle doch „Humanität zeigen“, drängte ihr Parteifreund Michael Portillo.
Menschen fühlen sich im Stich gelassen
May verzichtete auf den Kontakt mit den Angehörigen von Opfern, weil sie sich ausrechnen konnte, was sie zu hören bekommen hätte. Die Wut in Nord-Kensington wächst. Die Menschen sind empört, weil sie sich im Stich gelassen fühlen von kommunalen Politikern, denen sie seit Jahren gesagt haben, dass es beim Brandschutz des Hochhauses gravierende Mängel gab. Sie denken auch, dass die Sparpolitik der konservativen Regierung in den letzten sieben Jahren dazu geführt hatte, dass in den sozialen Wohnungsbau nicht mehr investiert wurde.
Nord-Kensington ist einer der reichsten Kommunen in Großbritannien mit einem zugleich sehr armen Bevölkerungsteil. Hier gibt es eine sehr diverse Mischung von Menschen – ethnisch wie sozial. Auf der einen Seite viele Sozialempfänger mit Migrationshintergrund, auf der anderen Seite eine vornehmlich weiße obere Mittelklasse, die sich jene sündhaft teuren Häuser leisten kann, die nicht zum sozialen Wohnungsbau gehören wie etwa der Grenfell Tower.
Brennbare Fassadenverkleidung sollte Tower aufhübschen
Die Modernisierung des Grenfell Tower vor einem Jahr, sagen jetzt die Anwohner, habe man unternommen, um den Betonklotz aufzuhübschen mit einer neuen Fassadenverkleidung. Das mag das Viertel schöner aussehen lassen, doch für viele Mieter im Tower hatte die Verkleidung fatale Folgen: Da sie brennbar war, konnte das Feuer an der Außenwand schnell nach oben klettern.
Die Feuerwehr, die solch eine Brandentwicklung noch nie erlebt hatte, war überwältigt. Man hatte den Mietern vorher gesagt, im Brandfall in ihren Wohnungen zu bleiben, sie würden innerhalb einer Stunde gerettet werden. Solange sei ihre Wohnung feuerfest. Die Weisung wurde zum Todesurteil.
Feuerfeste Paneele hätten nur 5000 Pfund mehr gekostet
Kein Wunder, dass die Wut und der Ärger jetzt überzuschnappen scheint. Die private Wohnungsverwaltungsgesellschaft, die den Tower im Auftrag der Kommune betrieb, hätte auch Fassadenpaneele auswählen können, die feuerfest gewesen wären. Das, so rechnete die „Times“ am Freitag vor, hätte weniger als 5000 Pfund (5700 Euro) mehr gekostet.
Als der Londoner Grenfell Tower brannte
Als die Queen in Nord-Kensington erschien, bekam sie keine der wütenden Vorhaltungen und Anklagen zu hören, die tags zuvor noch an den Bürgermeister Sadiq Khan gerichtet wurden – da war der Respekt vor der alten Dame doch zu groß. Aber die Fragen über kriminelle Haftung und politische Verantwortung werden nicht so schnell verschwinden.
Brand schockiert Großbritannien mehr als der Terror
Das Land ist durch den anscheinend vermeidbaren Hochhausbrand viel mehr schockiert als durch die jüngsten Terroranschläge. Die hat man stoisch ertragen. Aber im 21. Jahrhundert so viele Menschenleben durch, wie man fürchtet, Nachlässigkeit und Profitmaximierung zu verlieren, hat die Nation zutiefst aufgewühlt.