Berlin. Mit Computerhilfe sollen Einbrecher ertappt werden, bevor sie zuschlagen. Was nach einem Wundermittel klingt, birgt aber auch Risiken.

Im Sommer vor seinem Tod bekam Daniel Alcantara aus Chicago Besuch von der Polizei. Sie warnte den jungen Mann: Er sei gefährdet, entweder würde er im Gefängnis landen – oder im Grab. Er solle einen Neuanfang machen, ohne seine Gang. Denn Alcantara ist Mitglied einer berüchtigten Gruppe in der US-Metropole, seit Jahren bekriegen sich Kriminelle, immer wieder kommt es zu Schießereien. Alcantaras Name landete auf einer Liste der Polizisten, die ein Computerprogramm ausgewertet hatte.

Die Software sammelt Daten von Gang-Mitgliedern, ihren Vorstrafen und Kontaktleuten, den letzten Tatorten und Schusswechseln. Das Programm nutzt einen Algorithmus und wertet aus, wer gefährdet ist: als Opfer oder Täter. Dann fahren die Polizisten hin und warnen. Sie wollen den Straftaten zuvorkommen. Sie wollen Verbrechen vorhersehen.

„Predictive Policing“ erlebt Boom

„Predictive Policing“ nennen die Amerikaner die Strategie: Computertechnik soll helfen, Straftaten vorauszusagen, bevor die Täter zuschlagen können. Über Jahre war die Methode nur Spezialisten bekannt. Heute erlebt die Prognose-Software einen Boom – nicht nur in den USA nutzen viele Polizeien Programme, um Einbrecher oder Gewalttäter zu bekämpfen. In Deutschland haben Länder wie Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren eine Software getestet: Sie nennen sich „Precobs“ oder „KLB-operativ“.

Hier verhindert ein Polizist, dass ein Gebäude Feuer fängt

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    Die Leistungen von Computern steigen, noch nie wurden so viele Daten verschickt, hochgeladen und gesammelt. Allein die Deutschen verschickten 2015 täglich 667 Millionen Nachrichten per WhatsApp. Unternehmen sammeln Daten über ihre Kunden, um deren Kaufverhalten besser zu kennen und Werbung gezielter zu schalten. Ärzte sammeln Informationen über Patienten, um zu checken, wie anfällig sie für bestimmte Krankheiten sind. Doch können Computer vorhersagen, in welches Haus ein Dieb als nächstes einbricht?

    Einbrecher kehren an frühere Ziele zurück

    Auch Verbrecher handeln häufig nach Mustern, sagen Kriminologen. Fallanalysen, Täterprofile, Lagebilder – all das sind daher Methoden, die Polizisten auch im analogen Zeitalter benutzt haben. Nun sollen Programme helfen, die Daten schneller und präziser auszuwerten. In Deutschland vor allem im bisher wenig erfolgreichen Kampf gegen Einbrecher. Profis unter den Kriminellen suchen gezielt Nachbarschaften auf, in denen sie in der Vergangenheit bereits erfolgreich Einbrüche verübt haben. Häufig bleiben sie für einige Tage in einer Ortschaft.

    Organisierte Einbrecher zielen auf Diebesgut wie Schmuck oder Bargeld und nicht auf schweres Gerät wie Fernseher oder Stereoanlagen. Sie nutzen Werkzeuge, brechen Türen etwa mit einer Bohrmaschine auf. Nach dieser Systematik suchen Computerprogramme wie „Precobs“ – und werten in einem Umkreis von einigen Hundert Metern mögliche neue Ziele der Einbrecher aus – tagesaktuell. „Auch bei Uhrzeiten und Jahreszeiten lassen sich Muster erkennen“, sagt Thomas Schweer unserer Redaktion.

    Software soll Ermittlern Zeit sparen

    Schweer ist Firmengründer vom „Institut für musterbasierte Prognosetechnik“, das „Precobs“ entwickelt hat. Dominik Gerstner vom Max-Planck-Institut in Freiburg hebt hervor, dass solche Programme den Ermittlern Zeit und Personal sparen können – nicht unwichtig, da Reviere unter der Last der Überstunden erdrückt werden.

    Gerstner wertet derzeit das Pilotprojekt mit „Precobs“ in Baden-Württemberg aus. Ergebnisse stellt das LKA im Frühjahr vor. Wer mit Innenministerien telefoniert, hört fast immer von „sehr guten Erfahrungen“ mit der Software. In München etwa ging die Zahl der Einbrüche von Oktober 2014 bis März 2015 um 29 Prozent zurück, in den nach einer „Precobs“-Prognose besonders „bestreiften“ Gebieten sogar um 42 Prozent.

    Es gibt nicht nur eine Ursache

    Doch das bayerische Innenministerium sagt auch: Ob die Erfolge allein auf das Programm zurückzuführen seien, könne man nicht sagen. Denn die Polizei setzte in derselben Zeit mehr Streifenwagen ein, erhöhte die Schleierfahndung, kooperierte mit anderen Bundesländern, klärte Nachbarschaften stärker auf. Diese Programme seien kein Hexenwerk, sagt Erfinder Schweer. „Precobs reduziert Komplexität.“

    Kriminelle sind Modernisierungsgewinner: Sie nutzen offene Grenzen, profitieren vom sekundenschnellen Geldtransfer in alle Welt und nutzen verschlüsselte Kurznachrichten-Dienste. Die Polizei dürfe den Kriminellen nicht mit den Methoden des 20. Jahrhunderts hinterherrennen, sagte kürzlich Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) auf einer Tagung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in Berlin. „Wir brauchen Waffengleichheit.“ Auch bei der Technik.

    In den USA erfährt Technik bei der Polizei einen Boom

    Wie weit der Einsatz von Hightech bei der Polizei geht, erzählt der in Hamburg lebende US-Journalist und Sicherheitsexperte Jay Tuck. Moderne Kameras filmen nicht mehr nur Gesichter – sie erkennen Personen an ihrem Gang oder am Abstand zwischen Schulter und Kopf – und schlagen Alarm, wenn eine gesuchte Person zu erkennen ist. Manche Firmen in den USA würden Daten und Videomaterial von Überwachungskameras an Polizei und Geheimdienst verkaufen.

    Ermittler nutzen in einigen Dienststellen Informationen von Facebook-Profilen, andere Prognose-Programme binden sogar Wetterdaten oder Karten über Kneipen sowie U-Bahn-Fahrpläne ein. Tuck berichtet von einer IT-Firma, die eine Drohne mit bis zu 100 Videokameras ausgestattet hat. Jede Bewegung von Autos oder Fußgängern kann die Drohne aus 5000 Meter Höhe überblicken – und das zeitgleich in einer mittelgroßen US-Stadt.

    Für Datenschützer Horrorvision

    Datenschützer üben scharfe Kritik an diesen Methoden. Derzeit werden personenbezogene Informationen in den Prognose-Programmen in Deutschland nicht genutzt. Auch „Precobs“-Entwickler Thomas Schweer sagt: „Der Datenschutz ist wesentlicher Bestandteil eines jeden demokratischen Systems, deshalb muss man mit der Verwendung personenbezogener Daten verantwortungsvoll umgehen.“

    Das müsse jedoch nicht heißen, dass „man sie gar nicht verwenden soll. An dieser Stelle ist Augenmaß gefordert“. Auch die Linkspartei im Bundestag warnte davor, dass das massenhafte Sammeln von Daten das Risiko erhöhe, dass auch unschuldige Personen in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten – etwa Menschen, zu denen ein Krimineller Kontakt hatte.

    Ermittler bremsen die Euphorie

    Und Ermittler in Deutschland bremsen die Euphorie. Noch immer arbeiten viele Bundesländer mit unterschiedlicher IT, Datenaustausch ist oft nicht möglich, was gerade bei mobilen Einbrecherbanden und Terroristen ein Sicherheitsrisiko ist. So wie Hessen entwickeln Länder auch eigene Software für das „Predictive Policing“ – das sei günstiger, und Daten würden bei der Polizei bleiben, nicht bei Firmen.

    Und diese Daten würden auch nur etwas nutzen, wenn sie von Polizisten richtig interpretiert werden, sagt ein hochrangiger BKA-Mitarbeiter. Die Erkenntnisse seien lokal begrenzt, Prognosen würden sich eignen für Einbruchsdelikte, aber schon weniger für Mord. Denn die Motive für diese Verbrechen sind häufig sehr persönlich.

    Studien über die Effizienz fehlen

    Wissenschaftliche Studien zur Effizienz der Programme gibt es bisher kaum. Eine Untersuchung in der US-Stadt Shreveport in Louisiana zeigte keinen stärkeren Rückgang in Bezirken, in denen Prognose-Software von der Polizei eingesetzt wurde, als in anderen Stadtteilen. Und auch auf Risiken weisen erste Analysen hin: Prognose-Werkzeuge können für die Polizisten zu einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ werden, indem Beamte immer wieder neue Daten aus einem Bezirk in das System einspeisen, um dann wieder erhöhte Risiko-Werte für eben diesen Bezirk zu erhalten – ein Kreislauf, der vor allem heikel ist, wenn bestimmte soziale oder ethnische Gruppen in ihn geraten.

    Gang-Mitglied Daniel Alcantara starb im Sommer 2016, er wurde in einer der berüchtigten Nachbarschaften von anderen Kriminellen erschossen. So hatte es das Prognose-Programm der Polizei vorhergesagt. Die Zahl der Morde im Straßenkrieg der Gangs ging in dieser Zeit in Chicago nicht nach unten.