Berlin. Als Fünfjähriger wird Saroo Brierley von der Familie getrennt. 20 Jahre später findet er sie wieder. Ein Film erzählt seine Geschichte.

Jede Nacht hatte Saroo Brierley (35) denselben Traum. 20 Jahre lang tauchten die Bilder auf, sobald er die Augen schloss. Die Lehmhütte, in der er mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern lebte. Die Bahnschienen und der Wasserturm waren nur noch verblasste Koordinaten in seinen frühen Kindheitserinnerungen. Als Fünfjähriger wurde Brierley von seiner Familie in Indien getrennt, dann von einem australischen Paar adoptiert. Er wuchs in Tasmanien auf. 20 Jahre später fand er seine Familie schließlich wieder – mithilfe von Google Earth.

Die Lebensgeschichte von Saroo Brierley – sie klingt so ergreifend, wie ein Hollywoodfilm sein muss, dachten sich die US-Produzenten der Weinstein Company. Heraus kam der Film „Lion“ (ab 23.2. im Kino) mit Dev Patel und Nicole Kidman, der bei den diesjährigen Oscars nominiert ist. Zuvor hatte Saroo Brierley seine Geschichte für ein Buch aufgeschrieben.

Saroo schlägt sich allein in Kalkutta durch

© Getty Images for TWC-Dimension | Jesse Grant

Bis zu jener Nacht, in der er verloren geht, sammelt er als Fünfjähriger fast täglich Essensreste mit seinem älteren Bruder Guddu am Bahnhof seiner Heimatstadt Khandwa im Nordwesten Indiens. In dieser Nacht schläft der kleine Saroo jedoch in einem der Züge ein, die am Bahnhof stehen, und wacht erst wieder auf, als der Zug schon mehrere Stunden fährt. „Ich dachte, mein Bruder würde zurückkommen und mich wecken, aber als ich aufwachte, war er nirgends zu sehen“, erinnert sich Brierley am Telefon. 14 Stunden später steigt er in einer fremden Stadt aus – in Kalkutta.

Dort schlägt er sich die nächsten Monate auf der Straße durch, wird verprügelt, als Bettler von Händlern vertrieben. Bis er schließlich in ein Waisenhaus kommt. Weil er weder den Namen der Stadt, aus der er stammt, noch einen Familiennamen nennen kann, wird er zu Adoption freigegeben. Sein neues Zuhause allerdings liegt in Tasmanien. Von dort kommen seine Adoptiveltern.

Adoptivmutter ermuntert ihn zur Erinnerung

Der mittlerweile sechsjährige Junge findet sich schnell in seinem neuen Zuhause zurecht, fühlt sich bei seinen Adoptiveltern geborgen, lernt Englisch und gewinnt in der Schule viele Freunde. Dennoch lässt ihn der Gedanke an seine Familie nicht los. „Es war traumatisch für mich als Kind, mit allen diesen Erinnerungen umzugehen und mit dem Gefühl der Ungewissheit zu leben“, erzählt Brierley.

Als sein Englisch besser wird, beginnt er seiner Adoptivmutter Sue Brierley von seinen Erinnerungen zu erzählen. Sie hilft ihm, diese zu sortieren, indem sie ihn eine Skizze anfertigen lässt, die er immer weiter vervollständigt. Saroo Brierley kann jeden Tag mehr erzählen. Einmal vom Wasserturm in seiner Heimatstadt, dann von den Bahnübergängen, von einem Brunnen neben dem Marktplatz.

Mit Kinderfoto reist Saroo in seine Geburtsstadt

Als er 25 Jahre alt ist, fängt er schließlich an, mit Google Earth nach seinem Geburtsort zu suchen. Er berechnet, wie weit er in jener Nacht wohl gefahren sein könnte, zieht einen entsprechend weiten Kreis um Kalkutta und stößt so auf die Stadt Khandwa. „Als ich das endlich gefunden hatte, zoomte ich in die Karte rein, und zack, gleich kam alles wieder. Ich konnte sogar den Wasserfall erkennen, an dem ich als Kind gespielt hatte.“

Brierley reist nach Indien, steht Tage später mit nassen Händen und einem Foto von sich als Kind in seiner Geburtsstadt. Ein alter Mann, dem er das Bild zeigt, kann ihm helfen. Er führt ihn zu seiner Mutter. Die bricht „wie vom Donner gerührt“ in Tränen aus. Sie kann nicht fassen, dass ihr Sohn endlich nach Hause gefunden hat.

Saroo Brierley unterstützt seine leibliche Mutter

Später erfährt Saroo Brierley, dass sein Bruder Guddu kurz nach seinem Verschwinden tot auf den Bahngleisen aufgefunden wurde. „Meine Mutter hat in einer Nacht zwei Kinder verloren“, sagt Brierley. „Ich weiß nicht, wie sie das verkraften konnte.“ Mittlerweile ist der Schriftsteller Dutzende Male nach Indien gereist. Er hat seiner Mutter ein Haus gekauft und schickt ihr monatlich Geld. „Ich versuche, die verlorene Zeit mit ihr nachzuholen“, sagt Brierley. Für ihn steht aber auch fest, dass Tasmanien seine Heimat ist. „Das ist da, wo mein Herz ist, meine Freunde und auch meine Familie.“