Würzburg. Anas M. machte ein Selfie mit Kanzlerin Merkel. Seither wird er im Internet als Terrorist verleumdet. Jetzt wehrt er sich vor Gericht.

Es gibt viele großartige Momente an diesem Montag im Landgericht Würzburg, zum Beispiel, als der Facebook-Anwalt Christian Wirth sagt: „Unsere Mandantin kann die Fotos nicht alle erkennen, man sagt doch einem Ingenieur auch nicht: Du hast ein Auto erfunden, dann könnt ihr auch fliegen.“ Oder als Anwalt Chan-Jo Jun, immer lächelnder Deutscher koreanischer Abstammung, sich im Zuschauerraum umsieht und zu seinem Nachbarn murmelt, er suche nach Zeugen, „die dem Gericht erklären können, was es bedeutet, eine Meldung zu ‚teilen‘“.

Denn der vorsitzende Richter am Landgericht Volkmar Seipel hatte mit einem leichten Lächeln kurz vorher zugeben müssen: „Wir haben den Nachteil, dass wir es hier mit einer Kammer zu tun haben, die komplett nicht bei Facebook ist.“ Der Facebook-Anwalt murmelte: „Ich bin geneigt zu sagen: schade.“

Attentate ließen die Stimmung kippen

Das Verfahren, das hier im Saal 17 in knapp 90 Minuten verhandelt wurde, könnte irgendwann in den Jura-Lehrbüchern vorkommen, denn es ist wohl historisch: Der gebürtige Syrer Anas M. hat im September 2015 ein Selfie mit Angela Merkel gemacht, es auf Facebook gestellt – was ihn berühmt machte. Doch als die Attentate in Ansbach, Würzburg und schließlich Berlin passierten, kehrte sich die Stimmung gegen den Flüchtling.

Verfahren gegen Facebook begonnen

weitere Videos

    Es gab Menschen, die behaupteten, er sei schuld an diesen Attentaten. Er traute sich nicht mehr vor die Tür und kam gegen die Falschbehauptungen nicht an. Als um die Weihnachtstage ein Obdachloser angezündet wird, gibt es wieder ein Foto mit dem Text: „Merkel machte 2015 Selfie mit einem der Täter.“ Da war dieser Verhandlungstag längst angesetzt.

    Streitpunkt sind vor allem die Gemeinschaftsstandards

    Grundfrage des Prozesses ist, in welchem Ausmaß Facebook selbst tätig werden muss, um unzulässige Inhalte von seiner Plattform zu tilgen. Die Bilder, die M. neben Terroristen zeigen, wurden hundertfach geteilt. Facebook entfernte die Ausgangsbeiträge. Anas M. wollte aber erreichen, dass Facebook von sich aus auch alle Posts, die den rechtswidrigen Inhalt teilen, finden und löschen muss. Sein Anwalt Chan-Jo Jun argumentiert zu Beginn der Verhandlung, seine Mitarbeiter hätten mehrfach die Probe gemacht. „Wir haben mehrere Facebook-Einträge, in denen M. zu Unrecht verunglimpft wurde, als Falschmeldungen bei dem sozialen Netzwerk gemeldet“, sagt er.

    Facebook meldete sich und entschied mit Ausnahme von einem der mehr als 40 Fälle: Die Beiträge verstoßen nicht gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards. Entfernt wurden sie nicht. Erst als sich Jun per Mail als Anwalt von M. zu erkennen gab, nahm das Netzwerk die Forderungen ernst und entfernte sie. Die Facebook-Anwälte sagten: löschen. Jun kontert sofort und läuft bis vor den Richterstuhl: „Nein, sie sind nachweislich noch heute online und abrufbar, gelöscht sind sie nicht.“

    Es ging hoch her im Gerichtssaal und das nicht nur in der Frage der Löschung. Anwalt Jun kann nicht verstehen, warum sich Facebook gegen die Komplettlöschung wehrt. Die Anwälte legten dar, dass sie so einen Präzedenzfall verhindern wollen. Dann könnten immer wieder Menschen eine Löschung verlangen. Doch wie solle das bei rund einer Milliarde Posts täglich erreicht werden? Facebook behauptet, es habe diese Möglichkeiten nicht, solche Posts zu entdecken. Jun sagte, das Unternehmen sei sehr wohl bereits soweit.

    Unklar ist, ob das Teilen einer Verleumdung strafbar ist

    Die nächste Frage war dann, ob sich jemand strafbar mache, wenn er eine Verleumdung poste. Bislang ist da die Rechtsprechung nicht eindeutig. Das OLG Frankfurt hatte im November 2011 entschieden, dass man sich einen Beitrag nicht „zu eigen macht“, wenn man ihn auf Facebook teilt. Das Gericht hatte darin einen Unterschied zum Klicken auf „Gefällt mir“ gesehen. Volkmar Seipel will sich da auch nicht festlegen.

    Schon vor dem Prozess ist Jun nicht müde geworden, dieses Verfahren so hoch wie möglich anzusiedeln. „Facebook entscheidet willkürlich“, sagt Jun, „welche Seiten online bleiben und welche nicht.“ Die Gemeinschaftsstandards seien eben kein transparentes Dokument, sagte er. „Einerseits verbietet Facebook Nacktheit, aber Hassmeldungen können bestehen bleiben.“ Facebook habe seine Gemeinschaftsstandards so entwickelt, dass sich Menschen weiterhin auf dem Netzwerk vernetzen. „Das deutsche Recht und Verleumdung sind den Mitarbeitern dabei egal.“

    Facebook will prüfen, ob Inhalte gelöscht werden können

    Aber hilft das Anas M.? Der sitzt den ganzen Prozess über ganz ruhig da und zeigt keine Regung. Auch am Ende, als der Richter den Streit mit der Bemerkung beendet, dass man „wegen Fasching“ sich für den 7. März für die Verkündung entschieden habe. „Wir erlassen einstweilige Verfügungen nur dann, wenn uns alles hundertprozentig plausibel erscheint“, sagte der Vorsitzende Richter. Auf Vorschlag des Gerichts wollen die Anwälte des Netzwerks bis dahin prüfen, ob die beanstandeten Bilder und alle künftig vom Kläger gemeldeten Beiträge europaweit gelöscht werden.

    Das Gericht hatte zunächst einen Vergleich mit Zahlung von Schmerzensgeld vorgeschlagen – Facebook lehnte jedoch ab. Anwalt Jun sagt der Weltpresse auf Englisch, dass Facebook zugeben musste, eben nicht gelöscht zu haben und dass gezeigt wurde, dass „deutsches Recht auch für Facebook gelte“.

    „Sie haben gelogen“

    Es war der Tag der großen Gesten und Szenen, die man am liebsten sofort auf Facebook seinen Freunden mitteilen möchte. Zum Beispiel der Moment, als Anas M. sich zu seinem Anwalt dreht und fragt, ob er ihn umarmen darf. Er darf. Oder als M. kurz darauf einer Journalistin aus Syrien auf Arabisch erklärt, was er gerade erlebt hat. Und danach vor dem Gericht steht und über Facebook auf Deutsch sagt: „Sie haben gelogen.“

    Bleiben wird vor allem eine Szene: Als der Gerichtssaal 017 fast leer ist, stellt sich Anas M. noch einmal vor seine Anwälte, hebt sein Handy und macht tatsächlich – ein Selfie.