New York/Mumbai. Wie ergeht es einem Menschen, der fünf Tage verschüttet ist und seine Familie verliert? Ein Erdbebenopfer will Menschen Mut machen.

Nach 105 Stunden unter tonnenschweren Trümmern sagte er seinen Rettern den Satz, der das Zitat des Tages in der „New York Times“ wurde: „I’m perfectly fine“, alles bestens also, erklärte Viral Dalal. „I just need a little bit of water and maybe food.” Ein bisschen Wasser und vielleicht etwas zu essen bräuchte er. Nach einem der schwersten Erdbeben in Indiens Geschichte und seiner wundersamen Rettung wollte er nun seine Familie suchen. In einem zum 16. Jahrestag seiner Rettung veröffentlichten Buch schreibt der Informatiker darüber.

Viral Dalal sagt, er fühlte sich nach dem Erdbeben und dem Tod seiner ganzen Familie, als sei er gestorben. Doch das Leben kehrte zurück, er ist heute mit Frau und Kindern in den USA glücklich.
Viral Dalal sagt, er fühlte sich nach dem Erdbeben und dem Tod seiner ganzen Familie, als sei er gestorben. Doch das Leben kehrte zurück, er ist heute mit Frau und Kindern in den USA glücklich. © privat | privat

„Choosing Light“, Entscheidung für das Licht, schildert seine Stunden in der Finsternis, die düstere Zeit nach dem Wissen, das seine Familie ausgelöscht ist – und warum er heute ein glücklicher Mensch ist. Unserer Redaktion hat er Auszüge aus dem Buch zur Verfügung gestellt und mehr über sein Rezept für das Glück verraten. „Es war das Jahr, in dem ich gestorben bin. Und es war auch das Jahr, in dem ich wieder anfing zu leben.“

Der Tag des Bebens: Es ist der 26. Januar 2001. Nach 15 Monaten in den USA ist der 25-jährige Student Viral Dalal endlich wieder bei seiner Familie in Indien. Am Abend vorher ist es bei ihm spät geworden, und er lässt sich im Bett auch vom Lachen aus der Küche nicht stören. Er will noch ein bisschen schlafen und schickt seinen Vater wieder weg, als der ihn wecken will. Der Vater zieht sogar den Vorhang zu. Der junge Mann muss bei aller Schläfrigkeit schmunzeln, so umsorgt gefühlt hat er sich lange nicht mehr. Behaglich zusammengerollt liest er beim Eindösen noch mal die Zeit ab: 8.35 Uhr.

Das Beben: Als er von einem Grummeln wach wird, schaut er nicht auf die Uhr. Gewitter? 8.46 Uhr ist es, werden die Seismologen später sagen. Die Behörden werden davon sprechen, dass das zwei Minuten andauernde Erdbeben der Stärke 7,7 bis zu 20.000 Menschen den Tod gerissen hat.

Das Bett fliegt durch den Raum

Das Rumpeln hört nicht auf, es kann kein Donner sein. Dalal denkt an schwere Möbel, die gerückt werden. Aber aus dem Grummeln wird ein Dröhnen. Bomben? Greift das nahe Pakistan am indischen Nationalfeiertag an? Bei seinem nächsten Atemzug beginnt das Bett zu tanzen.

Und das Wackeln wird heftiger.

Das Dröhnen immer noch lauter.

Du musst hier raus, denkt Viral, alle müssen sich in Sich… Er kann nicht zu Ende denken. Jetzt fliegt alles im Raum durch die Luft.

Gegenstände krachen gegen die Wände.

Der Deckenventilator schwingt in alle Richtungen.

Stockwerk auf Stockwerk: Dieses Gebäude in Bhuj ist bei dem verheerenden Beben wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Viral Dalal war im zweiten Geschoss eines achtstöckigen Gebäudes.
Stockwerk auf Stockwerk: Dieses Gebäude in Bhuj ist bei dem verheerenden Beben wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Viral Dalal war im zweiten Geschoss eines achtstöckigen Gebäudes. © REUTERS | © Reuters Photographer / Reuter

Von überall her das Klirren zerberstender Scheiben. Und dazu das wilde Gebrüll. „Als würde ein Ungeheuer der Erdkruste entsteigen“, schreibt Dalal wörtlich.

Zement- und Deckenteile fallen herab. Dalal muss raus. Und hat doch keine Chance, wird hin- und hergeschleudert. Ein breiter Riss bildet sich im Fußboden, die Luft ist eine Staubwolke.

Das Donnern schwillt noch einmal an. Das war der achte Stock, der in den siebten kracht. Und der in den sechsten, und der in den fünften. Das Gebäude stürzt von einem Moment auf den anderen auf die Seite. Der zweite Stock mit Viral Dalal sackt ab auf das Niveau des Erdgeschosses. 20, vielleicht 30 Sekunden bebt die Erde noch, dann wird es still. Der junge Mann liegt in einem Zwischenraum, enger als ein Sarg.

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Die Zeit unter den Trümmern: Hilflosigkeit ist das vorherrschende Gefühl. In den ersten Stunden brüllt Dalal Hilferufe in den Beton, aber nichts passiert. Er hat ein Stück Aluminium, mit dem er die Wand über sich bearbeitet. Aber er kann sich kaum bewegen, er hat nichts zu essen, kein Wasser, kein Licht, kann sich kaum bewegen. „Alles, was ich hatte, war mein Geist”, schreibt er unserer Redaktion. „Ich habe mir keine Gedanken um mein Leben gemacht. Da gibt es etwas in uns allen, das uns zuredet, uns Signale schickt und uns anleitet. Ich wusste, dass ich rauskomme. Ich überlebte, weil ich meine Familie finden wollte. Das war mein Gedanke.”

Mit Gedanken dem Durstgefühl entflohen

Die Uhr, ein Geschenk seines Vaters, kann er auch gefangen im Schuttberg noch ablesen, das hilft ihm, im Rhythmus von Tag und Nacht zu bleiben. Er weiß auch, wie viele Stunden er nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken hat. Den Durst und den Hunger habe er aber kaum gespürt, schreibt er unserer Redaktion. „Ich habe mit meinen Gedanken gekämpft und sie eingesetzt, um diesen Gefühlen zu entfliehen.”

Die Rettung: Mehr als vier Tage sind vergangen, als der Mann einer Cousine glaubt, seine Rufe zu hören. Er hält vorbeikommende Mitglieder des Internationalen Rescue Corps (IRC) an, die ihm schnell zustimmen: In der Stadt, in der so viele Leichen geborgen werden, gibt es einen weiteren Überlebenden. Nach 105 Stunden hieven aus Schottland eingeflogene Helfer die letzten Betontrümmer über ihm zur Seite, ziehen ihn aus den Trümmern. Von den Momenten seiner Rettung gibt es pixelige Videobilder des IRC.

Die Helfer übergeben ihn an Sanitäter. Viral Dalal kommt in ein Behelfskrankenhaus. Dass er lebt, ist ein Wunder, aber nicht das erste derartige: In China hat eine verschüttete Frau sogar einmal 150 Stunden in Trümmern überlebt, in Mexiko konnten Helfer 1985 auf einer Säuglingsstation sechs Tage nach einem Beben noch drei Babys lebend retten. Doch kein Opfer hat sein Erlebnis in einem Buch so eindringlich geschildert.

Sie waren gerade mit dem Frühstück fertig, als die Erde katastrophal wackelte. Die Eltern von Viral Dalal kamen ebenso ums Leben wie sein Bruder, dessen Frau und deren kleiner Sohn.
Sie waren gerade mit dem Frühstück fertig, als die Erde katastrophal wackelte. Die Eltern von Viral Dalal kamen ebenso ums Leben wie sein Bruder, dessen Frau und deren kleiner Sohn. © privat | privat

Der Verlust seiner Familie: Dalal bleibt nicht in der provisorischen Klinik, nur eine halbe Stunde später taucht er am eingestürzten Haus auf. Niemand aus seiner Familie ist bisher gefunden worden, der Student kann nicht ruhen, er will anpacken. Es vergehen fast 24 Stunden, dann stößt er auf seinen Bruder: tot. Am zweiten Tag nach seiner Rettung stößt er auf die Leichen seiner Schwägerin und ihres zweijährigen Sohnes. Am dritten Tag entdeckt er seinen toten Vater, noch einen Tag später, neun Tage nach dem Beben hat er auch Gewissheit über das Schicksal seiner Mutter. Viral Dalal ist der einzige Überlebende, seine Familie ist ausgelöscht. Aus den Trümmern ist er gerettet, und doch in ein ganz tiefes Loch gefallen. „Ich hatte mir nicht gewünscht, ich wäre gestorben. Ich fühlte mich tot.“

Das neue Leben: Von dem Ort, an dem seine Familie ein fröhliches Wochenende verbringen wollte, kehrt er zurück in seinen Geburtsort. Entferntere Verwandte sind für ihn da, aber das ist für ihn kein Trost. „Da war ein Vakuum, das mich zu schlucken drohte.“ Wochen verstreichen so, in denen er existiert, aber nicht lebt. Bis er vor einem Bild seiner Eltern steht und innehält: „Sie wären nicht froh mit der Art Leben.“ Es ist der Moment, in dem er seinem Leben wieder eine Richtung gibt. Er reist bald darauf zurück in die USA, nimmt sein Studium wieder auf, macht den Abschluss. Er beginnt das Buch über seine Tortur und ahnt noch nicht, dass es ein Buch darüber wird, wie man lebt.

„Ich hatte keinen Grund, wieder aufzustehen“

„Choosing Light
„Choosing Light" hat 338 Seiten und kostet 19,95 Dollar. Es gibt das Buch nur in englischer Sprache. © Viral Dalal | Viral Dalal

Er habe Antworten auf die oft gestellte Frage geben wollen, wie er die fünf Tage in Dunkelheit überstanden hat. Und wie er die Zeit danach überlebt hat. „Ich könnte mein Leben lang hadern, was mir widerfahren ist, über diese Düsternis. Ich habe mich für das Licht entschieden.“ Frohsinn komme von innen, und man müsse arbeiten, um ihr den Weg zu bahnen.

„Ich hatte keinen Grund, wieder aufzustehen. Ich bin aufgestanden und losgegangen auf dem Weg dessen, was ich erreichen wollte. Ich habe wieder angefangen, das Leben zu lieben und die glücklichen Momente.“

Er denkt nicht, dass es etwas mit seiner indischen Herkunft und einer möglichen Mentalität dort zu tun hat. „Eine positive Einstellung ist keine Frage von einem indischen Geist. Das ist etwas, was wir alle irgendwo besitzen.“