Weilheim. Ein Arzt findet Globuli im Ohr eines kranken Kindes. Sein Tweet erschreckt viele. Er selbst sieht darin ein Symptom für viele Probleme.

Beim Blick in den Gehörgang des vierjährigen Mädchens in seiner Praxis traute Dr. Christian Lübbers seinen Augen kaum. Weiße Kügelchen im Sekret vor dem entzündeten Trommelfell, zum Teil schon in Auflösung begriffen. Die Eltern waren zwei Tage zuvor bei einem Heilpraktiker gewesen, und der hatte Globuli als Therapie empfohlen. Der Tweet des Arztes mit dem überspitzten Fazit „Homöopathie wirkt: Dummheit potenziert sich“ machte rasend schnell die Runde. Doch Lübbers sieht in dem konkreten Fall exemplarisch auch die Probleme des Gesundheitssystems.

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Seit fünf Jahren twittert der HNO-Arzt aus Weilheim in Oberbayern meist zu gesundheitspolitischen Themen, ohne große Resonanz. Sein Tweet zu dem mit Homöopathie absurd falsch behandelten Mädchen hat einen Nerv getroffen, ist schon mehr als tausendfach retweetet, macht inzwischen auf Facebook die Runde und löst Diskussionen aus. „Ich glaube“, sagt er, „viele können sich in die Situation hineinversetzen. Jeder hatte mal eine Mittelohrentzündung.“ Doch ihm geht es auch ums Vertrauen in Ärzte und die Frage, wie eine Mittelohrentzündung zu behandeln ist.

„Mädchen war sehr tapfer“

Mit einem Sauger holte der 39-jährige Mediziner Sekret und Kügelchen aus dem Ohr des fiebrigen Kindes. „Das Mädchen war sehr tapfer.“ Er sah dann das nach außen gewölbte, unter Druck stehende Trommelfell und den Eiter. Eindeutig eine bakterielle Mittelohrentzündung. Lübbers verschrieb dem Mädchen Schnupfenspray, Schmerzmittel und antibiotischen Saft. Zwei Tage früher hätte er es eventuell beim abschwellenden Nasenspray und Schmerzsaft belassen können.

Twitterer witzeln über „ohrale Einnahme“

Als sich der Zustand des Mädchens nach dem Besuch beim Heilpraktiker nicht gebessert hatte, waren die Eltern zu dem Spezialisten gegangen. Sie haben dem Arzt zufolge einen Migrationshintergrund, sprechen aber sehr gut Deutsch. Lübbers erwähnt die Herkunft, weil sie vielleicht noch ein wenig das Verhalten der Eltern entschuldigt: „In keinem anderen Land ist Homöopathie so ein großes Thema wie in Deutschland.“ Die Eltern hatten aus der Heilpraktikerpraxis die Information mitgenommen, die Mittel seien „ja für das Ohr“. Auf Twitter wird jetzt über „ohrale Einnahme“ und Einnahmeformen bei Beschwerden an anderen Körperteilen gewitzelt.

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Lübbers kann nicht sagen, ob sich die Entzündung durch die Zuckerkügelchen noch verschlimmert haben könnte – reine Spekulation. „Der Fremdkörpereffekt war aber sicher schlimm für das Kind.“ Die Eltern hätten aber nur das Beste für ihr Kind gewollt und seien erschrocken gewesen, als er sie aufgeklärt habe. Deshalb hält er auch absolut nichts davon, das Jugendamt hinzuziehen.

Beschwerden hätten auch verschwinden können

Der Fall zeigt für ihn aber, dass Heilpraktiker manchmal nicht mit ihrer eigentlich Stärke punkten könnten – der psychosozialen Komponente: Zeit für den Patienten. „Wenn sich hier vielleicht genug Zeit genommen worden wäre, hätten die Eltern die Globuli doch zumindest nicht ins Ohr gesteckt.“ Problematisch könne auch sein, dass Menschen nach einem Besuch beim Homöopathen zunehmende Schmerzen und Komplikationen nicht ernst nehmen: „Es wird bei der Behandlung auf eine sogenannte typische Erstverschlimmerung hingewiesen.“

Der Besuch der Eltern beim Homöopathen hätte aber auch mit einem vermeintlichen Erfolg enden können. Es gibt zwar keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Homöopathie besser als Placebo-Produkte wirkt. „Es ist aber Realität in der Medizin, dass sich viele Befunde von alleine zurückbilden“, sagt Lübbers. „Deshalb stimmt der Satz ,Wer heilt, hat Recht`auch so nicht.“

Viel zu oft Behandlungen mit Antibiotikum

Aus dem gleichen Grund sei es aber falsch, bei Ohrenschmerzen gleich mit einem Antibiotikum zu behandeln. Die Befunde könnten sich von alleine verbessern. Dazu kommt, dass Antibiotika in den meisten Fällen nichts bewirken: „90 bis 95 Prozent der Mittelohrentzündungen sind viralen Ursprungs.“ Und gegen Viren hilft ein Antibiotikum überhaupt nichts.

Die Tendenz vieler Eltern zu Heilpraktikern komme aber daher, dass Schulmediziner viel zu oft unnötig Antibiotika verordneten. Das eigentlich richtige Vorgehen wird den Medizinern aus seiner Sicht durch unser Gesundheitssystem sehr erschwert: „Meistens reicht es, Schmerzmittel und ein abschwellendes Nasenspray zu geben und sich den Patienten nach 24 oder 48 Stunden noch einmal anzuschauen.“

Keine Vergütung für zweiten Termin

Wenn dann bei einem erneuten Besuch die Beschwerden nicht besser geworden sind und alle Anzeichen auf eine bakterielle Mittelohrentzündung hindeuten, könne immer noch ein Antibiotikum gegeben werden. Aber der zweite Besuch werde den Ärzten bei Kassenpatienten nicht vergütet. „Wenn ein Arzt also direkt ein Antibiotikum verordnet, ist er auf der vermeintlich sicheren und vermeintlich kostengünstigeren Seite.“ Die derzeitigen Leitlinien der Schulmedizin spiegelten aber „glücklicherweise den Rat zu einer zurückhaltenden Antibiotikatherapie und einer kurzfristigen Kontrolle“ wider.

Doch da geht es um Strukturen im Gesundheitswesen und um Gesundheitspolitik – nichts, womit er tausendfach retweetet wird.