Kitzbühel. Unsere Autorin bezwingt die legendäre Streif verkehrt herum: Sie rennt nachts den Berg hoch. Eigentlich keine Aufgabe für Anfänger.

Ohne die Stöcke wäre ich wohl verloren. Mit aller Kraft stoße ich sie in den Hang und ziehe mich daran hoch. Der Schnee knistert unter der Sohle, es geht immer höher. So schwierig hatte ich mir diesen Wettbewerb nicht vorgestellt.

Ich bin angetreten, um eine der gefährlichsten Abfahrtsstrecken der Welt zu bezwingen: die Streif in Kitzbühel. Beim Vertical Up wird die Piste jedoch in umgekehrter Richtung gemeistert. Statt auf Skiern halsbrecherisch ins Tal zu rasen, geht es mit Schneeschuhen, Spikes oder Tourenskiern den Berg hinauf.

Die steilste Stelle hat eine Neigung von 85 Prozent

Die harten Fakten: mehr als 3,3 Kilometer, 860 Höhenmeter, die steilsten Stellen mit einer Neigung von 85 Prozent, und das auch noch nachts. Neben der Speed-Klasse, in der Spitzensportler um den Sieg ringen, gibt es noch eine zweite Kategorie, die Rucksack-Klasse. Das klang für mich machbar. Zu Hause jedenfalls.

Im Skiverleih fragt man mich ehrfürchtig, wie lange ich denn schon im Training sei. „Bisschen joggen, bisschen Yoga“, murmele ich. Und ernte entsetzte Blicke. Was ist so beängstigend an der Streif, auf der im Januar 2017 das nunmehr 77. Hahnenkamm-Rennen ausgetragen wird? Das sehe ich bei der Streckenbegutachtung. An den steilsten Stellen wie der Hausbergkante geht es fast senkrecht bergab.

Überall drahtige Männer und Frauen

Da taucht plötzlich der erste Vertical Upper auf. Zielstrebig stapft er mit Trekking-Schuhen und Spikes die Piste hoch – ein letzter Streckencheck. „Und, wie lange hast du schon trainiert?“, frage ich. „Ach, nur die letzten Wochen ein bisschen, im vergangenen Jahr habe ich zum ersten Mal mitgemacht, es war total lässig“, sagt der 41-Jährige, der sich nur als Christian vorstellt. Vielleicht ist das Rennen auch für mich zu schaffen.

Abends im Kongresszentrum: drahtige Männer, so weit das Augen reicht, viele Triathlontrikots, dazwischen einige nicht minder drahtige Frauen. Ganz schön einschüchternd. Der sympathische Kitzbüheler Harald Ziegler, 62, ist ebenfalls für die Rucksack-Klasse angemeldet. „Du schaffst das schon“, beruhigt er mich – bevor er erzählt, dass er im Sommer gerne die Streif hochjoggt. Vor dem Frühstück. Na toll.

Da hilft nur die Spikes in Eis stemmen

Der Startschuss fällt abends um 18.30 Uhr. Knapp 1000 Teilnehmer drängen den Berg hinauf. Schon nach den ersten 50 Metern fange ich an, jämmerlich zu schnaufen - und gerate ins Schlingern. Doch plötzlich packt mich ein starker Arm von hinten. Harald, mein Mitstreiter. „Die Krallen ausfahren und geradeaus weiter“, brüllt er, während ich die Spikes meiner Schneeschuhe gehorsam ins Eis stemme.

Und es geht tatsächlich weiter. Irgendwie. Inzwischen bin ich die Letzte. Harald hat Mitleid mit mir und weicht nicht von meiner Seite. „Immer nur bis zur nächsten Kurve denken, im Steilen schön auf die Stöcke lehnen“, ruft er. Ab und zu bleiben wir stehen. Er, um die funkelnden Sterne und den Blick auf die leuchtenden Häuser im Tal zu genießen. Ich, um nach Luft zu schnappen.

Jetzt kommt es nur noch auf Hartnäckigkeit an. Dann plötzlich: der allerletzte Hang. Noch einmal geht es steil hinauf. „Endlich, ich war noch nie so froh, die allerletzte Teilnehmerin zu sehen“, frotzelt der Vertical-Up-Moderator über die Lautsprecher. „Für dich spielen wir als Zieleinlauf „We are the Champions".“ Hysterisch lachend taumle ich ins Ziel. Meine Zeit: 2 Stunden und 41 Minuten.

Für die Allerletzte gibt es einen Kranz Würste bei der Siegerehrung

Der Gewinner, der kurze Zeit später unten im Tal auf dem Siegertreppchen steht, brauchte nur 30 Minuten und 49 Sekunden. Er kommt mir verdammt bekannt vor. Ist das nicht...? Ja richtig, es ist Christian, der mir bei der Probeabfahrt auf der Piste begegnete und das Rennen „total lässig“ fand! Er ist nicht nur heutiger und Vorjahresgewinner, sondern auch eine österreichische Legende: Christian Hoffmann, Olympia-Sieger im Langlauf.

Als offiziell allerletzte Zieleinläuferin darf auch ich auf die Bühne und mir einen Trostpreis abholen: Der Kitzbüheler Bürgermeister hängt mir feierlich einen Kranz mit Würsten um den Hals. Doch die anderen 1000 Teilnehmer jubeln anerkennend. Kein Spott, sondern Respekt. Die Streif von unten nach oben zu bezwingen, ist eine Leistung. Aufs Gewinnen kommt es dabei gar nicht an. (dpa)