Berlin. Ermittler wussten, wie gefährlich der Islamist Anis Amri ist. Rekonstruktion einer gescheiterten Jagd nach einem Kriminellen

Donnerstagnachmittag stehen Kanzlerin Angela Merkel, Justizminister Heiko Maas und Innenminister Thomas de Maizière vor Fernsehkameras beim Bundeskriminalamt in Berlin. Merkel spricht von einer „hoffentlich baldigen Festnahme“.

Sie lobt die „hochprofessionelle Arbeit“ der BKA-Mitarbeiter und der Landesbehörden. Die Zusammenarbeit laufe „reibungslos und mit großem Elan“. Auch Maas und de Maizière sprechen über die „hohe Professionalität“ der Ermittler.

Bundesanwaltschaft - Verdächtiger Amri hat wohl Lkw gesteuert

weitere Videos

    Abschiebung mehrfach gescheitert

    Ermittler in Kriminalämtern, Experten und manche Politiker sprechen von absurden Behördenkonflikten, falschen Reaktionen und vor allem von „Fehlern im System“ bei der Fahndung nach Anis Amri – und beim Strafvollzug. Andere sprechen davon, dass vieles unternommen wurde, den Mann als Straftäter zu überführen – doch die Beweise haben offenbar nie ganz gereicht.

    Mehrfach scheiterte zudem die Abschiebung von Amri zurück nach Tunesien. Und Kriminalpolizisten und Geheimdienstlern war Amri lange bekannt: als gewaltbereiter Extremist.

    Er gilt als einer von 550 „Gefährdern“, die Staatsanwaltschaft Berlin eröffnete sogar ein Verfahren im März 2016. Doch nie waren Amri konkrete Anschlagspläne nachzuweisen. Das jedenfalls sagen die einen in Polizei und Justiz. Andere fragen: Hätte das Attentat verhindert werden können? Schauplätze einer gescheiterten Verfolgung:

    Italien

    Im Februar 2011 erreichte Anis Amri auf einem Flüchtlingsboot die italienische Mittelmeer-Insel Lampedusa – er betritt die EU und kommt wie viele Migranten und Flüchtlingen in eine Erstaufnahmeeinrichtung auf Sizilien. Amris Bruder Walid sagt tunesischen Medien jetzt, Amri habe sein Heimatland verlassen, weil er wegen Diebstahls eines Lastwagens zu Haft verurteilt worden war.

    Und auch in Italien fällt er gleich auf, soll in einer Schule randaliert haben und diese versucht haben, in Brand zu stecken. Er wird wegen Vandalismus, Bedrohungen und Diebstahl zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Mai 2015 kommt er frei und in Abschiebehaft. Tunesien habe sich aber geweigert, den Mann aufzunehmen, heißt es nun von Seiten der italienischen Behörden. Sie können Amri nicht abschieben und ließen ihn laufen – mit der Auflage, Italien zu verlassen.

    Und Amri verlässt Italien – nur nicht in Richtung Tunesien. Sondern nach Deutschland. Im Juli 2015 reist Amri unbemerkt ein, landet erst in Freiburg und kurz darauf in Nordrhein-Westfalen. Zurück nach Italien wird er nicht unmittelbar gebracht, was laut EU-Verordnung der Rechtsweg gewesen wäre. Im April 2016 beantragt er Asyl. Die sogenannte Dublin-Verordnung setzen die deutschen Behörden im Fall Amri nicht um.

    Nordrhein-Westfalen

    Dennoch hätte die Todesfahrt mit dem gekaperten Laster möglicherweise verhindert werden können – wenn Sicherheitsbehörden früher eingegriffen hätten. Diese Kritik kommt aus dem Sicherheitsapparat selbst. Eingeweihte Ermittler aus NRW haben kein Verständnis für „die endlos lange Leine“, die Amri gewährt wird.

    Kurz nach seiner Einreise sei der Tunesier bereits als radikaler Zeitgenosse aufgefallen. Die Kommunikation des 24-Jährigen wird seit Februar 2016 permanent überwacht. Zunächst vom Landeskriminalamt NRW, später – als es Amri in die Hauptstadt zog – von Ermittlern in Berlin. Die Fahnder wissen, wo der Tunesier sich aufhielt, was er tut und plant. Amri war viel unterwegs. Beim Pendeln zwischen Nordrhein-Westfalen, wo er vor allem Dortmund ansteuerte, und Berlin saß er meist in den grünen Bussen des Fernreiseunternehmens Flixbus.

    Pläne wurden radikaler

    Schon die NRW-Fahnder hören, wie die Tonlage des bekennenden Islamisten immer aggressiver wird, seine Pläne immer radikaler. Als die Überwacher realisieren, „dass er gezielt nach Waffen und Mittätern für Anschläge suchte – spätestens da hätte man handeln müssen“, sagt ein ranghoher Ermittler unserer Redaktion.

    Verstöße, für die man ihn hätte belangen können, habe es gegeben. Schließlich sei Amri mit vier bis acht unterschiedlichen Identitäten gereist, habe mehrere falsche Pässe benutzt. Ein Verfahren wegen Urkundenfälschung wäre leicht möglich gewesen, sagt der Ermittler. „Dann hätte der Mann gemerkt, dass ihm der Staat im Nacken sitzt, ihn nicht in Ruhe lässt.“

    Behörden werden nur bei Ankündigungen aktiv

    Deutsche Sicherheitsbehörden aber müssen zumeist darauf warten, „dass ein Attentat in allen Einzelheiten angekündigt“ werde: „Am Tag X um die Uhrzeit Y begehe ich genau diese Tat an diesem Ort“ – ohne eine solche „Anklageschrift in eigener Sache“ werde kaum eine Behörde aktiv. Das Gesetz macht Polizisten und Richtern hier klare Auflagen, um eine Haft auf Basis von Mutmaßungen, Verdacht oder gar Willkür zu verhindern.

    Und an anderer Stelle heißt es aus den Sicherheitsbehörden, dass die mitgeschnittenen Aussagen von Amri über das Handy oder in Gesprächen immer vage blieben, immer konspirativ. Laut „Spiegel“ soll er sich in Chats mit Islamisten sogar als Selbstmordattentäter angeboten haben – allerdings auch nur verklausuliert und vage. Nie konkret.

    „Doch mit dieser Haltung wird die Polizei ihrer Garantenpflicht nicht mehr gerecht“, kritisiert ein Ermittler. Statt den Schutz der Öffentlichkeit zu garantieren, begehe man ein „unechtes Unterlassungsdelikt“. Bezogen auf den Fall Anis Amri heiße das: „Wenn man solche Leute nicht aus dem Verkehr zieht, wird man seinen Aufgaben nicht gerecht und ist strafrechtlich mitverantwortlich für die Folgen.“ Nur wie ist man sich sicher, was der Mann tatsächlich plant?

    Berlin

    Die Ermittler in Nordrhein-Westfalen sammeln schon seit 2015 Hinweise dafür, dass Amri einen Anschlag planen könnte. Irgendwann sind sich die Polizisten offenbar so sicher, dass sie den Fall sogar an die Generalbundesanwalt in Karlsruhe – Deutschlands höchste Strafverfolger – abgeben wollen. Doch die ziehen die Ermittlungen gegen den Tunesier nicht an sich. In solchen Fällen gilt laut Gesetz, dass die Staatsanwälte der Länder federführen – es sei denn, der Fall bekommt eine besondere Bedeutung. Das sehen die Richter damals offenbar nicht so.

    Warum dann jedoch kein Verfahren in NRW aufgenommen wird, ist unklar. Stattdessen beginnt im März 2016 ein Verfahren in Berlin. Die Staatsanwälte dort hatten Hinweise von Sicherheitsbehörden des Bundes bekommen, nach denen Amri einen Einbruch plane, um hierdurch Gelder für den Erwerb automatischer Waffen zu beschaffen, möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen. Ob und wie eng Ermittler aus Nordrhein-Westfalen und Berlin in dem Fall zusammenarbeiten, ist eines der bisher unklaren Hintergründe im Fall Amri.

    Polizisten observierten Amri, sein Telefon wurde abgehört. Die Maßnahmen werden sogar noch einmal verlängert. Doch im September 2016 steht fest: Es gibt nicht genügend Hinweise, die das Überwachen von Amri weiter zulassen. So jedenfalls schreibt es nun die Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Bis heute läuft das Verfahren. Zu einer Anklage ist es nie gekommen. Im November ist die Causa Amri noch einmal Thema im Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern in Berlin. Die Vertreter aus Polizei und Verfassungsschutz beraten: Wie weiter mit Amri – ohne das Recht, ihn weiter abzuhören? Die Antwort: bleibt offen. Spätestens Anfang Dezember, einige Wochen vor dem Anschlag, so scheint mittlerweile klar, haben Polizei und Verfassungsschutz den „Gefährder“ Anis Amri aus den Augen verloren. Sie wissen nicht mehr, wo er ist und was er plant.

    Baden-Württemberg

    Während Kriminalpolizisten den Extremisten Amri verfolgen, droht dem Tunesier Amri die Abschiebung. Im Juni 2016 lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Amris Asylantrag ab. Er soll abgeschoben werden. Bei einer Routinekontrolle am Busbahnhof in Friedrichshafen greifen Polizisten Amri auf. Er hat keine Papiere, ist in der Datenbank der Polizei als „ausreisepflichtig“ geführt.

    Die Polizisten führen den Tunesier einem Richter vor. Er entscheidet: Amri kommt in Abschiebehaft in die Justizvollzugsanstalt Ravensburg. Nach Paragraf 62 des Aufenthaltsgesetzes kann die Haft bis zu sechs Monate und höchstens um zwölf Monate verlängert werden. Doch Anis Amri kommt schon nach zwei Tagen wieder frei.

    Haftentlassung wegen fehlender Identität

    Grund: Für Amris Abschiebung ist die Ausländerbehörde im nordrhein-westfälischen Kleve zuständig. Dort ist Amri gemeldet. Die Behörde in Kleve teilt den Beamten im Süden mit, dass der Tunesier aus der Haft zu entlassen sei. Denn die Identität des Tunesiers könne nicht zweifelsfrei geklärt werden. Nötige Papiere aus Tunesien seien noch nicht da. Amri kommt frei.

    Seine zweite Abschiebung zurück nach Tunesien scheitert. Erst gestern, zwei Tage nach dem Anschlag in Berlin, schicken die tunesischen Beamten laut NRW-Innenminister Jäger die nötigen Ausreisepapiere für Amri nach Deutschland.