Berlin. Anis Amri verübte in Tunesien Straftaten. Auch in Deutschland war er den Behörden bestens bekannt. Er nutzt wechselnde Identitäten.

Man würde so gerne etwas herauslesen aus dem Sieben-Sekunden-Video. Einen Hinweis, eine Erklärung, was Anis Amri zu seiner wahnsinnigen Tat veranlasst haben könnte. Schaut er verschlagen? Ist da ein böses Funkeln in seinen Augen? Wieder und wieder schaut man das Handy-Video an, das Amri am 26. September auf seinem Facebook-Account hochgeladen hat. Aber da ist nichts. Nur ein Mann mit kurz geschorenen Haaren – und hinter ihm die Spree.

Die Auswertung der Datei zeigt, dass das Video in Kreuzberg an der Oberbaumbrücke aufgenommen wurde. Auch das ist eigentlich egal. Und doch will man alles wissen, was mit Anis Amri und seiner Todesfahrt vom Breitscheidplatz zusammenhängt. Nach dem, was man weiß, wird Anis Amri am 22. Dezember 1992 in der Stadt Tataouine in Tunesien geboren. Er wächst in der Region Kairouan im Nordosten des Landes auf, wo den Einwohnern große Sympathien für den Salafismus nachgesagt werden.

Bootsflüchtling auf Lampedusa

Gewalttätig, so sagt sein Vater der britischen „Times“, sei Anis schon damals gewesen. Einen Lkw stiehlt er bereits 2010. Welch bittere Ironie. Ende 2010 nutzt er die Wirren des „arabischen Frühlings“, um als Bootsflüchtling auf die sizilianische Insel Lampedusa überzusetzen. Er behauptet, minderjährig zu sein. Sein Vater sagt, er habe seitdem keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn gehabt. Eines will er aber loswerden: In Tunesien sei Anis gewalttätig gewesen – aber „nie religiös“.

Seine Gewaltbereitschaft stellt Anis Amri auch in Italien unter Beweis. Medienberichten zufolge fällt er mit Eigentumsdelikten und Körperverletzungen auf. Nachdem er eine Schule angezündet hat, verurteilt ihn ein italienisches Gericht zu mehreren Jahren Gefängnis. In der Haft, so vermutet sein Bruder, lernt er Extremisten kennen, radikalisiert sich, findet eine Legitimation, um der Gewalt höhere Bedeutung zuzuschreiben. 2015 wird Amri vorzeitig entlassen. Er taucht unter und reist im Juli 2015 über Freiburg nach Deutschland, hält sich zuerst in Nordrhein-Westfalen auf.

Berliner Staatsanwaltschaft ermittelte schon mal im März

Den Sicherheitsbehörden fällt seine Radikalität auf, sie stufen ihn als „Gefährder“ ein – als Person, der sie jederzeit einen Anschlag zutrauen. Amri verkehrt im Umfeld des Salafisten-Predigers Abu Walaa. Der Mann gilt als Verbindungsmann des IS. Schon Ende 2015 fragt Amri einen Glaubensbruder, ob er ihm Waffen für einen Anschlag besorgen könnte. Was er nicht ahnt: Der Mann ist Vertrauensperson des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes.

Die Behörden sind also im Bild. Laut Bayerischem Rundfunk heißt es in Amris Gefährderdatei, er werbe „offensiv bei anderen Personen darum, gemeinsam mit ihm islamistisch motivierte Anschläge zu begehen“. Wenn er sich nicht dem „Kampf gegen die Ungläubigen“ widmet, lügt Amri deutsche Behörden an. Im April 2016 stellt er einen Asylantrag, nutzt wechselnde Identitäten.

Berlins Behörden kennen Amri

Als sein Antrag abgelehnt wird, kann der behördenbekannte Islamist dennoch nicht abgeschoben werden – er hat keine gültigen Papiere, Tunesien erkennt ihn nicht als Staatsbürger an. Wie gefährlich er ist, wissen auch die USA.

Bundesanwaltschaft - Verdächtiger Amri hat wohl Lkw gesteuert

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    Die Behörden registrieren laut New York Times, dass Amri im Internet Anleitungen zum Bombenbau studiert. Er soll mit Terroristen des „Islamischen Staat“ Kontakt gesucht haben. Auch Berlins Behörden kennen Amri. Im März 2016 leitet die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein. Der Verdacht: Um an Geld für den Kauf automatischer Waffen zu kommen, soll Amri einen Einbruch planen. Überwachung der Kommunikation, permanente Beobachtung: Die Ermittler fahren das volle Programm.

    Grundlage für Überwachung entfällt

    Es gibt Hinweise, Amri deale mit Drogen. Doch der ursprüngliche Verdacht erhärtet sich nicht, die Grundlage für die Überwachung entfällt. Amri pendelt unterdessen zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin hin und her. Anfang Dezember taucht er unter – kapert am Montag, so der Verdacht, den Lkw einer polnischen Spedition, rast in die Menge an der Gedächtniskirche und reißt zwölf Menschen aus dem Leben.

    Der Mann aus dem Video am Spreeufer: Nach dem Stand der Ermittlungen ist er für den verheerendsten islamistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik verantwortlich – und ist noch nicht gefasst. Nur al-Huda, die Mutter von Anis Amri sagt, sie könne sich nicht vorstellen, dass ihr Sohn zu der Tat fähig sei. Wenn er doch der Täter sei, so sagt der Bruder, verdiene er „jede Strafe“.