Berlin. Weil es in Deutschland an Betreuungsplätzen mangelt, helfen Eltern sich selbst. Sie gründen betreute Kinderräume an ihrem Arbeitsplatz.

Die Mama, das hat der zweijährige Finn relativ schnell durchschaut, die ist nicht weit weg, nur durch zwei Türen und einen Korridor getrennt von ihm, und spätestens zum Mittagessen ist sie zurück. Dann können Mutter und Sohn gemütlich Gemüseauflauf mit den anderen Kindern und Eltern zu sich nehmen, bevor Mama dann wieder in die nächste Konferenzschalte verschwindet und Finn seinen Mittagsschlaf halten soll.

Die Mutter von Finn, so könnte man jetzt denken, ist mindestens Marissa Meyer und Chefin von Yahoo, weil sie ihren Sohn samt Nanny ins Büro mitnehmen kann – aber weit gefehlt. Finns Mutter ist nur Mitglied eines sogenannten Co-Working-Space in Berlin, der Arbeiten mit Kind dank Babysitter-Service oder angeschlossener Kita so selbstverständlich macht, dass man sich als Eltern ernsthaft fragen muss, warum keiner vor 20 Jahren auf die Idee gekommen ist.

Bürogemeinschaft mit einem Kindergarten

Die Berliner Anwältin Sandra Runge (39), Mutter von zwei Kindern, ist eine der Ersten, die auf die Idee kam, eine Bürogemeinschaft mit einem Kindergarten zu verbinden. Sie selbst hatte sich bei dem Projekt „Rockzipfel“ inspirieren lassen, einem Eltern-Kind-Büro in Leipzig. Das Konzept: „Arbeiten in Gesellschaft statt Isolation zu Hause.“

Im „Rockzipfel“ werden die Kinder abwechselnd von anwesenden Eltern in sogenannten Kinderräumen betreut, während andere Eltern im Nebenzimmer arbeiten können, E-Mails oder einfach nur ein Buch lesen. Sandra Runge, die in Berlin selbstständig als Arbeitsrechtlerin arbeitet, mochte die Idee, doch sie ging ihr nicht weit genug.

Zu Mittag gegessen wird gemeinsam

„Als mein kleiner Sohn geboren wurde, wusste ich, dass ich relativ schnell gerne in meinen Beruf wieder einsteigen wollte, doch die Vorstellung, ihn schon als Baby wie den großen Bruder in einen Kindergarten zu geben, machte mir totale Bauchschmerzen“, erzählt Runge. Ein Eltern-Kind-Büro sollte es sein, aber wenn man produktiv arbeiten wollen würde, müsste eine hauseigene Kita her.

Im Mai 2016 war der Wunschort fertig. Der Name: Coworking Toddler („toddler“ heißt übersetzt „Kleinkind“); er liegt mitten in Berlin in einem ehemaligen Kindercafé. Dort kommen Eltern und Kinder gemeinsam morgens an, die Büro- und die Kinderräume sind durch einen Durchgang getrennt. Zu Mittag gegessen wird gemeinsam. „Aber wir versuchen schon zu vermeiden, dass die Kinder genau wissen, wo die Eltern sind, damit konzentriertes Arbeiten auch möglich bleibt“, erwähnt Sandra Runge.

Vereinbarkeit ist für viele wichtiger als Gehalt

Ein Konzept, das bei vielen Eltern in ähnlichen Situationen offenbar gut ankommt: Mittlerweile bekommt das Team von Coworking Toddler mindestens drei Kitaplatz-Anfragen pro Tag.

Kein Wunder. In Zeiten, in denen die Vertreter der sogenannten Generation Y Entscheidungsträger sind und sich keiner mehr um jeden Preis für die Karriere zwischen Beruf und Familie zerreißen möchte, sind solche flexiblen Betreuungsmodelle gefragt. 92 Prozent der 25- bis 39-jährigen Arbeitnehmer mit Kindern unter 18 Jahren finden die Vereinbarkeit von Familie und Beruf laut einer Umfrage des Familienministeriums sogar wichtiger als das Gehalt.

Nur 1,2 Prozent aller Kindergärten sind Betriebskitas

Auf der anderen Seite ist die Zahl der Kinder unter drei Jahren in der Kindertagespflegebetreuung deutschlandweit um rund 26.200 auf 719.600 Kinder gestiegen. Sprich: Junge Eltern wollen wie Coworking-Toddler-Gründerin Sandra Runge zwar Familienzeit, aber auch nicht zu lange aus ihrem Beruf aussteigen. Im Jahr 2016 gab es in Deutschland allein 1,34 Millionen Selbstständige – Tendenz steigend. Und auch Festangestellte wundern sich, warum in Deutschland nur 1,2 Prozent aller Kindergärten Betriebskitas sind.

Ein Start-up aus München namens Sira Munich hat den Wunsch nach Büro-Kitas aufgegriffen und bietet nun mittelständischen Unternehmen an, dort Kinderbetreuung zu ermöglichen.

Die Unternehmen tragen die Miete

„Im Schnitt muss das Unternehmen mit 60.000 bis 100.000 Euro für den Umbau der Räume planen“, rechnet Sira-Gründer David Siekaczek vor. „Dazu kommen noch etwa 20.000 Euro für die Ausstattung mit Möbeln und Spielzeug sowie Projektkosten für uns in gleicher Höhe.“ Danach berechnet das Start-up 1000 Euro pro Monat für die laufenden Kosten, und die Unternehmen tragen die Miete.

„Unser Traum“, sagt Siekaczek „ist es, in ganz Deutschland Minikitas für den Mittelstand zu gründen – damit die Vereinbarkeit endlich besser wird.“ Sandra Runge hingegen hat da keine Befürchtungen. Sie findet, auch mit Blick auf ähnliche Projekte in San Francisco und Tokio: „Wir sind längst eine Bewegung.“