Berlin. Mehr Wohngemeinschaft, weniger Inseldasein: Die Zukunft der Generation 65 plus wird bunt und selbstbestimmt sagt ein Zukunftsforscher.

Hennig Scherf ist 77 Jahre alt und ein Trendsetter. Seit Jahren wirbt der frühere Bremer Bürgermeister für die Mehr-Generationen-Wohngemeinschaft. Und der SPD-Politiker lebt, was er in Vorträgen, Talkshows und Büchern predigt. Bereits 30 Jahre bewohnt er mit seiner Frau und seiner insgesamt achtköpfigen „Wahlfamilie“ ein Haus in der Bremer Innenstadt. Er erzählt von Mitbewohnern, die schwer erkrankten und von den anderen gepflegt und in den Tod begleitet wurden: „Ich habe das positiv erlebt, wie auch Lasten gemeinsam getragen wurden“, sagte Scherf im September bei einem Vortrag im hessischen Dillenburg.

Die Lebenserwartung steigt. Bereits jedes zweite jetzt geborene Kind wird 100 Jahre oder älter werden. Scherf sieht Wohnmodelle wie seins als Antwort auf Probleme, die die steigende Lebenserwartung der Deutschen verursacht – nämlich dass etwa 300.000 Pflegekräfte fehlen. „Es ist wichtig, dass Wohnformen geschaffen werden, in denen Menschen unterschiedlicher Generationen zusammenleben und sich gegenseitig stützen, auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind“, sagte er.

30.000 Mehr-Generationen- oder Senioren-WGs in Deutschland

Rund 30.000 Mehr-Generationen- oder Senioren-WGs soll es in Deutschland bereits geben. Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski (75, „Das Abraham-Prinzip – wie wir gut und lange leben“, Gütersloher Verlagshaus), der die Lebensmodelle der „neuen“ Senioren untersucht hat, hält solche Wohnformen für richtungsweisend. Sie würden nicht nur das Altersheim ersetzen, sondern zunehmend auch das zwar selbstständige, aber abgeschirmte Wohnen.

„Das Einfamilienhaus hört auf, der Idealtypus der Gesellschaft zu sein. Das Wohnen verliert seinen Inselcharakter“, sagt er. Durchlässige Hausgemeinschaften mit privaten Wohnbereichen und Gemeinschaftsräumen würden immer wichtiger. Sie entsprächen den Bedürfnissen nach einer Balance aus Nähe und Distanz. Serviceleistungen oder Pflegepersonal können gemeinsam beansprucht werden. Das ist günstiger, als in einzelnen Wohnungen zu leben, die gegebenenfalls von einem ambulanten Pflegedienst angefahren werden müssten. Und lebensfreudiger als im Heim.

Das durchlässige Wohnkonzept weitet sich auf ganze Viertel

So berichtet Opaschowski von acht Rentnern zwischen 62 und 92, die genervt aus einem Hamburger Altenheim auszogen und eine Villa am Ratzeburger See mieteten. Dadurch sparten sie Geld, waren mit dem Einrichten beschäftigt – und begannen sogar, gemeinsam zu reisen.

Inzwischen weitet sich das durchlässige Wohnkonzept auf ganze Viertel aus. Im Juli wurde in Burgrieden bei Tübingen der „Wohnpark Allengerechtes Wohnen“ mit 45 Einheiten und einem betreuten Bereich mit acht Zimmern eröffnet. Motto: „Lebenslang selbstbestimmt wohnen.“ In Idar-Oberstein ist ein ähnliches Wohnviertel mit 15 kleinen Häusern geplant – auf Initiative eines 78-Jährigen.

Rechtzeitig soziale Netze ausbauen

Die Wahlfamilien der neuen Senioren-XL-WGs werden auch die Hilfsbereitschaft wieder aufwerten, glaubt Opaschowski: „Sie wird, egal ob privat oder als Ehrenamt, weniger im Sinne von Aufopferung und Pflichterfüllung gesehen, sondern vielmehr als Bereicherung für beide Seiten.“

Die richtige Gemeinschaft zu finden, erfordert jedoch Planung. Zukunftsvorsorge werde daher nicht mehr nur finanziell definiert. „Es bedeutet, sich soziale Netze rechtzeitig auszubauen – jenseits von den eigenen Kindern, die oft woanders wohnen, aber auch jenseits der Partnerschaft“, sagt er. „Denn: 2030 wird die Mehrheit der Älteren nicht verheiratet, sondern ledig, geschieden oder verwitwet sein.“

Speed-Dating und Partnerbörsen für Senioren boomen

Der Forscher erkennt einen Trend zur Scheidung nach der Silberhochzeit. Dabei bedeutet eine Trennung oft keine Aufgabe der Beziehung: Viele Paare bleiben sich freundschaftlich verbunden. „Wir werden mehr Varianz in Beziehungen erleben“, sagt Opaschowski.

Das wird auch eine neue Infrastruktur für die partnersuchenden Senioren schaffen. In den USA gibt es bereits große, seriöse Single-Portale wie „Senior Match“. In Japan etwa hat der Seniorenbegegnungsverein „Sanko“ 10.000 Mitglieder. Er organisiert in einem Hotel in Tokio regelmäßig Flirt-Partys mit rund 200 Teilnehmern – Speed-Dating inklusive. So lässt sich vielleicht der Partner für den Rest des Lebens finden. Oder aber ein Mitbewohner für die WG.