Berlin. Achteinhalb Jahre lang war Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers. Im Interview spricht sie über die Zeit nach der Befreiung.

„Wie schön die Farben schimmern.“ Natascha Kampusch (28) erfreut sich an ihrem selbst kreierten Schmuck aus Perlmutt und Harz. Die Österreicherin hat ihr zweites Buch geschrieben, „10 Jahre Freiheit“ (List/Ullstein). Es beschreibt die Zeit, nachdem sie ihrem Entführer entkommen war, erzählt von ihrem Kampf zurück ins Leben. Achteinhalb Jahre war sie die Gefangene von Wolfgang Priklopil, den sie nur „den Täter“ nennt. Die meiste Zeit davon verbrachte sie in einem Kellerverlies. Kampusch ist guter Dinge. Sie spricht leise und konzentriert. Mal wirkt sie mädchenhaft, dann wieder analytisch, fast schon abgeklärt. Sie will sich nicht auf ihre Jahre als Opfer reduzieren lassen. Dass sie mit jedem Schritt an die Öffentlichkeit wieder auf diese Zeit verweist, ist ihr bewusst.

Was wollen Sie mit Ihrem neuen Buch erreichen?

Natascha Kampusch: Die Leute sollen einen Einblick bekommen, auch in mein privates Leben. Ich will, dass man sieht, was diese ganze Bekanntheit mit mir und meiner Familie gemacht hat. Und wie ich damit klarkam.

Was hat die Bekanntheit denn mit Ihnen gemacht?

Kampusch: Es war nicht immer angenehm. Ich wurde oft angesprochen, angepöbelt, meine Familie wurde diffamiert, was sehr schmerzhaft war.

Es gab Verschwörungstheorien, etwa, dass Sie sich dem Täter „freiwillig“ auslieferten. Warum waren Sie so eine Provokation für manche Leute?

Kampusch: Die meisten Menschen sehnen sich nach Beachtung. Es ist für sie wichtig. Da entsteht natürlich auch Neid, weil sie denken, ich bekomme die ganze Aufmerksamkeit. Wer bin ich schon, im Vergleich zu denen. Ich glaube, die Ablehnung war auch ein Ventil für die Ohnmacht, die diese Tat verursacht hat. Es war ein Versuch, mit dem Ungeheuerlichen klarzukommen. Irgendjemand muss schuld sein. Man hat den Täter nicht mehr zur Verfügung, also geht man auf das Opfer über, macht es zum Mittäter. Es war sehr belastend, weil ich nichts dafür konnte. Für viele Leute war ich eine Schande. Ein Täter macht sein Opfer leider immer auf eine gewisse Weise zu seinem Verbündeten.

Wie genau meinen Sie das?

Kampusch: Man versucht, eine Mitschuld beim Opfer zu sehen, dass es sein Schicksal in gewisser Hinsicht verdient hat. Das Leben ist unfair, jeder kann zum Opfer werden. Das ist schwer zu ertragen.

Sie waren nie das typische Opfer. War das eine bewusste Entscheidung?

Kampusch: Schon. Ich wollte nie an meinem Opfersein festhalten. Ich hätte mir sonst mein Leben verdorben.

Ist ein bisschen Ruhe eingekehrt?

Kampusch: Ja, man begegnet mir zunehmend mit Achtung. Es war schwierig. Politiker, die Gelder veruntreut haben, haben ihren Platz in der Gesellschaft nie verloren. Ich wurde geächtet und bespuckt, obwohl mir etwas passiert war, auf das ich keinen Einfluss hatte.

Wie hätten Sie den Erwartungen entsprechen können?

Kampusch: Vielen wäre es lieber gewesen, ich hätte mich unsichtbar gemacht. Ich hätte kein Buch geschrieben, keine Filmrechte verkauft, keine Interviews gegeben.

Sie haben sich nach Ihrer Selbstbefreiung bewusst dagegen entschieden, eine neue Identität anzunehmen.

Kampusch: Die Möglichkeit hätte bestanden. Aber meine Eltern wären die gleichen geblieben, es wäre sehr schwierig geworden, wenn die mich besuchen und Paparazzi im Garten lauern.

Würden Sie das heute anders entscheiden, nach den negativen Erfahrungen, die Sie gemacht haben?

Kampusch: Nein, denn es hätte eine neue Traumatisierung bedeutet, nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie. Ich bin ich, und ich bleibe ich, und ich lasse mich nicht verdrängen. Der Täter wollte meine Identität rauben. Da lasse ich mir doch nicht freiwillig meine Identität nehmen. Ich habe mich schließlich befreit, damit ich frei sein kann.

Sie haben das Haus des Täters als Entschädigung erhalten. Warum haben Sie es nicht einfach verkauft? Warum tun Sie sich das an?

Kampusch: Ich wollte es zur Selbstbewältigung haben. Außerdem dachte ich, dass es gut ist, wenn es nicht in falsche Hände geraten würde. Es ging mir auch darum, über den Täter zu triumphieren. Er hatte schließlich ein ganzes großes Haus für sich und hat mir zugemutet, in einem Verlies zu leben.

Was empfinden Sie jetzt, wenn Sie das Haus betreten?

Kampusch: Es gruselt mich immer mehr, je mehr Abstand ich dazu habe. Vielleicht vermache ich es der Gemeinde.