Berlin/Istanbul. Tag 23 nach dem Türkei-Putsch: Präsident Erdogan lässt sich feiern und vergöttern, aber Unzählige leiden in überfüllten Gefängnissen.

Zu sehen ist ein Meer aus türkische Fahnen und Bannern mit Aufschriften wie „Du bist ein Geschenk Gottes, Erdogan“ oder „Befiehl uns zu sterben, und wir werden es tun“. So präsentiert sich die offizielle Türkei gut drei Wochen nach dem gescheiterten Putsch. Hunderttausende Türken versammeln sich am Sonntag auf dem Yenkapi-Platz in Istanbul zu einer Demonstration gegen den Umsturzversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli. Die Kundgebung trägt das Motto „Demokratie und Märtyrer“ und es ist Präsident Recep Tayyip Erdogan, der dazu aufgerufen hatte.

Die Erdogan-Show im Fahnenmeer

Ein Bild, wie Recep Tayyip Erdogan es sich gewünscht haben dürfte: Die Großkundgebung in Istanbul ist ein einziges rotes Fahnenmeer. Von 2,5 Millionen vorbereiteten Flaggen war in Medien die Rede. In der Rede kritisierte Erdogan auch Deutschland.
Ein Bild, wie Recep Tayyip Erdogan es sich gewünscht haben dürfte: Die Großkundgebung in Istanbul ist ein einziges rotes Fahnenmeer. Von 2,5 Millionen vorbereiteten Flaggen war in Medien die Rede. In der Rede kritisierte Erdogan auch Deutschland. © dpa | Turkish President Press Office /
Vor einem Millionenpublikum hat der türkische Staatschef nach dem Putschversuch gestenreich die Einheit des Landes beschworen.
Vor einem Millionenpublikum hat der türkische Staatschef nach dem Putschversuch gestenreich die Einheit des Landes beschworen. © REUTERS | OSMAN ORSAL
Der türkische Halbmond ist auf dem Yenikapi-Platz überall zu sehen.
Der türkische Halbmond ist auf dem Yenikapi-Platz überall zu sehen. © dpa | Sedat Suna
Die Überblicksaufnahme zeigt die enorme Fläche, die die Kundgebung in Istanbul eingenommen hatte.
Die Überblicksaufnahme zeigt die enorme Fläche, die die Kundgebung in Istanbul eingenommen hatte. © dpa | Turkish President Press Office /
Eine Erdogan-Anhängerin schwenkt eine Fahne mit dem Bild des Präsidenten.
Eine Erdogan-Anhängerin schwenkt eine Fahne mit dem Bild des Präsidenten. © dpa | Sedat Suna
Erdogan und seine Frau Emine werden auf der Bühne ...
Erdogan und seine Frau Emine werden auf der Bühne ... © dpa | Sedat Suna
... wie Popstars empfangen.
... wie Popstars empfangen. © dpa | Sedat Suna
Die Marketing-Maschine scheint gut zu laufen: Nicht nur Kopftücher mit Erdogan-Schriftzug gibt es, ...
Die Marketing-Maschine scheint gut zu laufen: Nicht nur Kopftücher mit Erdogan-Schriftzug gibt es, ... © REUTERS | UMIT BEKTAS
... auch Masken des türkischen Staatschefs sind bei den Anhängern beliebt.
... auch Masken des türkischen Staatschefs sind bei den Anhängern beliebt. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Die Demo-Teilnehmer reisten als zahlreichen Städten nach Istanbul.
Die Demo-Teilnehmer reisten als zahlreichen Städten nach Istanbul. © dpa | Sedat Suna
In seiner Rede kritisierte Erdogan Deutschland scharf. Den Behörden warf er vor, ...
In seiner Rede kritisierte Erdogan Deutschland scharf. Den Behörden warf er vor, ... © dpa | Sedat Suna
... Terroristen zu ernähren. Deutschland werde das wie ein Bumerang treffen. Außerdem stellte Erdogan erneut die Todesstrafe in Aussicht. So eine Entscheidung vom Parlament würde er ratifizieren.
... Terroristen zu ernähren. Deutschland werde das wie ein Bumerang treffen. Außerdem stellte Erdogan erneut die Todesstrafe in Aussicht. So eine Entscheidung vom Parlament würde er ratifizieren. © dpa | Turkish President Press Office /
Szenen wie man sie sonst von religiösen Oberhäuptern kennt: Erdogan hält den Kopf eines Anhängers.
Szenen wie man sie sonst von religiösen Oberhäuptern kennt: Erdogan hält den Kopf eines Anhängers. © REUTERS | HANDOUT
Erdogans Feindbild ist auch das seiner Anhänger: Eine Puppe, die Exil-Prediger Fethullah Gülen darstellen soll, wird von einem Modellflugzeug aufgespießt.
Erdogans Feindbild ist auch das seiner Anhänger: Eine Puppe, die Exil-Prediger Fethullah Gülen darstellen soll, wird von einem Modellflugzeug aufgespießt. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Weniger martialisch sind die vielen Fahnen.
Weniger martialisch sind die vielen Fahnen. © REUTERS | OSMAN ORSAL
15.000 Polizisten kümmern sich um die Sicherheit der Veranstaltung. Mit Maschinengewehr auf dem Boden ...
15.000 Polizisten kümmern sich um die Sicherheit der Veranstaltung. Mit Maschinengewehr auf dem Boden ... © REUTERS | OSMAN ORSAL
... und mit Überblick von oben.
... und mit Überblick von oben. © REUTERS | OSMAN ORSAL
Die Kundgebung unter dem Motto „Demokratie und Märtyrer“ hat Erdogan organisiert. Unterstützt wurde sie von ...
Die Kundgebung unter dem Motto „Demokratie und Märtyrer“ hat Erdogan organisiert. Unterstützt wurde sie von ... © REUTERS | OSMAN ORSAL
... der Regierungspartei AKP, der oppositionellen CHP und der nationalistischen Bewegung MHP.
... der Regierungspartei AKP, der oppositionellen CHP und der nationalistischen Bewegung MHP. © REUTERS | OSMAN ORSAL
Seit dem gescheiterten Putsch hatte es täglich Demonstrationen in der Türkei gegeben.
Seit dem gescheiterten Putsch hatte es täglich Demonstrationen in der Türkei gegeben. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Nicht eingeladen zur Demo war die pro-kurdische HDP.
Nicht eingeladen zur Demo war die pro-kurdische HDP. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Ihr wirft Erdogan Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.
Ihr wirft Erdogan Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu zeigt sich solidarisch mit Erdogan, genauso wie ...
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu zeigt sich solidarisch mit Erdogan, genauso wie ... © REUTERS | OSMAN ORSAL
... der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, und ...
... der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, und ... © dpa | Sedat Suna
... Generalstabschef Hulusi Akar.
... Generalstabschef Hulusi Akar. © dpa | Sedat Suna
Nicht nur Politiker stehen auf der Bühne – auch Menschen mit traditioneller osmanischer Militärkleidung.
Nicht nur Politiker stehen auf der Bühne – auch Menschen mit traditioneller osmanischer Militärkleidung. © REUTERS | OSMAN ORSAL
Ein Helikopter fliegt über die fahnenschwenkende Menge hinweg, die ...
Ein Helikopter fliegt über die fahnenschwenkende Menge hinweg, die ... © REUTERS | OSMAN ORSAL
... bis zum Abend auf dem Platz aushielt.
... bis zum Abend auf dem Platz aushielt. © dpa | Sedat Suna
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Es ist eine Machtdemonstration. Sie soll auch gegen Kritik des Westens an den von der türkischen Führung ausgerufenen „Säuberungen“ in Militär, Justiz und Verwaltung schützen. „Ich bin kein Despot oder Diktator“, hatte Erdogan vor der Demonstration dem Sender al-Dschasira gesagt. Er würde kein Recht ausüben, das ihm vom türkischen Volk nicht zuvor verliehen wurde. Später auf der Kundgebung wiederholt er, dass er einer Wiedereinführung der Todesstrafe nicht im Weg stehen werde. „So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren“, sagt Erdogan.

„Wir sind hier, um zu zeigen, dass diese Flaggen nicht abgenommen werden, dass die Gebete nicht verstummen werden, und dass unser Land nicht geteilt wird“, sagt ein 46-jähriger Mann, der aus der Stadt Ordu am Schwarzen Meer nach Istanbul gereist ist. „Hier geht es um mehr als um Politik. Hier geht es um Freiheit oder Tod.“

In den Gefängnissen herrschen unhaltbare Zustände

Verdächtige, die mit Handschellen gefesselt und bis auf die Unterhose ausgezogen in überfüllten Zellen auf engen Pritschen hocken. Gefangene mit Verbänden und blauen Flecken. Auch das sind Bilder nach dem Putsch. Nach Einschätzung von Menschenrechtlern ist die Situation in den türkischen Gefängnissen unhaltbar. „Sie stapeln sie übereinander, um ausreichend Raum zu schaffen“, kritisiert etwa der Menschenrechtler Mustafa Eren.

Die Regierung erklärt, die Lage sei unter Kontrolle. Doch schon vor dem Putschversuch waren die türkischen Gefängnisse überfüllt und die Gerichte im Rückstand mit ihren Verfahren. Bereits im März hatten 188.000 Menschen in türkischen Gefängnissen eingesessen, 8000 mehr, als deren Kapazität zulässt. Seit dem Putschversuch Mitte Juli wurden zusätzlich 12.000 Menschen verhaftet. Tausende weitere werden zur Befragung festgehalten.

Unter den Tausenden zusätzlichen Gefangenen sind auch rund 3000 Staatsanwälte und Richter, was die Situation weiter verschärft, da sie bei der Bearbeitung der Verfahren fehlen. „Die Kapazität der Gefängnisse war schon vor dem 15. Juli erschöpft. Häftlinge mussten schon damals auf dem Gang oder vor den Toiletten schlafen“, sagt Veli Agbaba, der stellvertretende Vorsitzende der größten säkularen Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei CHP.

Agbaba ist Mitglied des CHP-Ausschusses zur Untersuchung der Zustände in den Gefängnissen. Die Gefängnisse seien derartig überfüllt, dass die Häftlinge in Schichten schliefen, sagt er. Als Reaktion stellten die Behörden zusätzliche Betten in die Zellen, sodass man dort keinen Schritt mehr gehen könne. „Das Problem ist so groß, dass es sich nicht mit zusätzlichen Betten lösen lässt“, erklärt Agbaba.

Inzwischen hat die Türkei so viele mutmaßliche Putschisten in Haft genommen, dass die Regierung nach eigenen Angaben über kein Gerichtsgebäude verfügt, das groß genug ist, um ihnen allen den Prozess zu machen. Am Ende könnten sich 30.000 Menschen vor Gericht verantworten müssen. Knapp sind auch Anwälte für die Inhaftierten. In manchen Fällen erhielten die Festgenommenen zwar einen Rechtsbeistand, oft handle es sich dabei aber um unerfahrene Anwälte.

Ein Alltag, der keiner mehr ist

Ein paar Kilometer von den Demonstrationen entfernt sitzen in einem Wohnzimmer dagegen Türken, denen überhaupt nicht nach Feiern zumute ist. Ihre Namen wollen sie aus Angst vor Repression nicht in der Zeitung lesen. Die Akademiker überlegen, ob und wie sie ihrem Land den Rücken kehren sollen. Ihrer Auffassung nach hat nicht die Demokratie gesiegt, sondern der Stärkere.

Einer, der die Gesellschaft jetzt spaltet: in Menschen, für die der Islam im Alltag nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, und in jene, die ein Erstarken des Islam begrüßen. „Für uns, die wir stolz waren auf die moderne Türkei, auf eine Trennung von Staat und Religion, ist nun für Jahre eine Eiszeit angebrochen“, befürchtet ein Jurist. Das „normale“ Leben auf den Straßen Istanbuls fände zwar wieder statt, Restaurants und Geschäfte haben geöffnet, die Menschen arbeiteten routiniert in ihren Jobs. „Aber mit dem Herzen sind alle bei der Frage, was nun werden soll.“ „Ich bin mit Freundinnen in den neunziger Jahren alleine in den Sommerurlaub verreist und abends essen und feiern gegangen. Meine Tochter könnte das zur Zeit so nicht machen“, erzählt eine Ärztin. Eine gesellschaftliche Aussöhnung scheint ferner denn je. Die Souvenirverkäufer auf den Plätzen Istanbuls haben sich den neuen Verhältnissen bereits angepasst. Fahnen mit dem Profil des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk sind erst einmal verschwunden.