Düsseldorf/Hagen. Klaus Radner verlor beim Absturz der Germanwings-Maschine im März 2015 seine Tochter und seinen Enkel. Jetzt hat er Anzeige erstattet.

Die junge Mutter trägt ihren kleinen Sohn auf dem Arm. Die beiden strahlen. Das Handyfoto, entstanden am Hafen von Barcelona, transportiert pures Familienglück. „Das letzte Bild von Maria und Felix“, sagt Klaus Radner (61), Kaufmann aus Düsseldorf. Wenige Stunden, nachdem Opernsängerin Maria Radner ihrem Vater das Bild schickt, ist sie tot. Sie war mit ihrem Lebensgefährten Sascha und dem eineinhalb Jahre alten Felix in die Germanwings-Maschine nach Düsseldorf gestiegen. Flug 4U9525 zerschellte am 24. März 2015 in den französischen Alpen. Der Kopilot hatte sein Leben beendet und 149 weitere Menschen mit in den Tod genommen.

In Klaus Radners Büro steht in einem Regal ein gutes Dutzend Familienfotos. Maria als Fünfjährige, mit ihrer Mutter, die vor 13 Jahren an Krebs starb, mit ihrer eigenen kleinen Familie. Daneben hängen zwei Bilder von ihrem Grab. Radner und Ehefrau Karen fahren zweimal pro Woche zu dem Friedhof, wo „unsere Kinder“ begraben sind. „Maria und ich standen uns sehr nahe“, sagt er, „wir waren Seelenverwandte.“

Seit dem Absturz der Germanwings-Maschine ist nichts mehr wie vorher. „Die Katastrophe hat mein Leben auf den Kopf gestellt“, sagt der 61-Jährige, „es ist ein Riesenverlust an Lebensqualität.“ In der ersten Zeit habe er sich im Schockzustand befunden, habe Schmerzen ertragen müssen, die kaum auszuhalten waren. Mittlerweile seien die körperlichen Schmerzen fort, sagt er und wiederholt: „Die körperlichen“.

Der Germanwings-Absturz – eine Chronik

Katastrophe in den französischen Alpen: Eine Germanwings-Maschine auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf stürzte am 24. März 2015 in der Nähe von Seyne-les-Alpes ab und zerschellte im Gebirge. Alle 150 Menschen an Bord des Airbus A320 kamen ums Leben.
Katastrophe in den französischen Alpen: Eine Germanwings-Maschine auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf stürzte am 24. März 2015 in der Nähe von Seyne-les-Alpes ab und zerschellte im Gebirge. Alle 150 Menschen an Bord des Airbus A320 kamen ums Leben. © REUTERS | REUTERS / EMMANUEL FOUDROT
Am Tag nach der Katastrophe gedachten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Spaniens Premierminister Marian Rajoy in Seyne-les-Alpes der Opfer. 72 der Opfer kamen aus Deutschland, darunter...
Am Tag nach der Katastrophe gedachten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Spaniens Premierminister Marian Rajoy in Seyne-les-Alpes der Opfer. 72 der Opfer kamen aus Deutschland, darunter... © REUTERS | POOL
...16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen einer Schule im nordrhein-westfälischen Haltern am See, die auf der Rückreise von einem Schüleraustausch waren. Die ganze Stadt stand unter Schock, ...
...16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen einer Schule im nordrhein-westfälischen Haltern am See, die auf der Rückreise von einem Schüleraustausch waren. Die ganze Stadt stand unter Schock, ... © dpa | Marcel Kusch
... die Schülerinnen und Schüler des Joseph-König-Gymnasiums trauerten um die Toten.
... die Schülerinnen und Schüler des Joseph-König-Gymnasiums trauerten um die Toten. © dpa | Marcel Kusch
Auch 51 Spanier starben, weitere Opfer kamen aus Argentinien, den USA, Kasachstan, Australien, Großbritannien, dem Iran, Kolumbien, Venezuela, Japan, Dänemark, Belgien, Marokko, Mexiko, den Niederlanden und von der Elfenbeinküste.
Auch 51 Spanier starben, weitere Opfer kamen aus Argentinien, den USA, Kasachstan, Australien, Großbritannien, dem Iran, Kolumbien, Venezuela, Japan, Dänemark, Belgien, Marokko, Mexiko, den Niederlanden und von der Elfenbeinküste. © dpa | Diego Crespo / Spanish Govt. / H
Hunderte Helfer bargen über Wochen die sterblichen Überreste der Absturzopfer, untersuchten und sicherten die Wrackteile.
Hunderte Helfer bargen über Wochen die sterblichen Überreste der Absturzopfer, untersuchten und sicherten die Wrackteile. © REUTERS | REUTERS / GONZALO FUENTES
Zwei Tage nach dem Absturz nährte die Auswertung des Stimmenrekorders den Verdacht, dass Andreas Lubitz, Copilot auf dem Flug, den Airbus mit Absicht zum Absturz brachte. Nach und nach wurde klar, dass Lubitz das Cockpit abgeschlossen hatte, als der Pilot es kurz verlassen hatte, und ihn anschließend nicht mehr herein ließ.
Zwei Tage nach dem Absturz nährte die Auswertung des Stimmenrekorders den Verdacht, dass Andreas Lubitz, Copilot auf dem Flug, den Airbus mit Absicht zum Absturz brachte. Nach und nach wurde klar, dass Lubitz das Cockpit abgeschlossen hatte, als der Pilot es kurz verlassen hatte, und ihn anschließend nicht mehr herein ließ. © dpa | Guillaume Horcajuelo
Am 27. März berichteten Ermittler von zerrissenen Krankschreibungen des Copiloten. Auch für den Tag des Absturzes hatten sie eine Krankschreibung gefunden.
Am 27. März berichteten Ermittler von zerrissenen Krankschreibungen des Copiloten. Auch für den Tag des Absturzes hatten sie eine Krankschreibung gefunden. © Reuters | REUTERS / GONZALO FUENTES
Am 30. März, sechs Tage nach dem Absturz, wurde offiziell mitgeteilt, dass Andreas Lubitz (hier ein Bild bei einem Halbmarathon im Jahr 2009) vor Jahren als suizidgefährdet eingestuft worden und in Psychotherapie gewesen war.
Am 30. März, sechs Tage nach dem Absturz, wurde offiziell mitgeteilt, dass Andreas Lubitz (hier ein Bild bei einem Halbmarathon im Jahr 2009) vor Jahren als suizidgefährdet eingestuft worden und in Psychotherapie gewesen war. © REUTERS | REUTERS / STRINGER
Laut Lufthansa, zu der die Fluglinie Germanwings gehört, wusste die Verkehrsfliegerschule während der Ausbildung des Copiloten von seiner früheren Depression.
Laut Lufthansa, zu der die Fluglinie Germanwings gehört, wusste die Verkehrsfliegerschule während der Ausbildung des Copiloten von seiner früheren Depression. © REUTERS | REUTERS / EMMANUEL FOUDROT
Lufthansa-Chef Carsten Spohr (r.) and Germanwings-Manager Thomas Winkelmann legten am 1. April an einer Gedenkstätte für die Absturzopfer im Dorf Le Vernet Blumen nieder.
Lufthansa-Chef Carsten Spohr (r.) and Germanwings-Manager Thomas Winkelmann legten am 1. April an einer Gedenkstätte für die Absturzopfer im Dorf Le Vernet Blumen nieder. © REUTERS | REUTERS / JEAN-PAUL PELISSIER
Einsatzkräfte fanden am 2. April auch den Flugdatenschreiber des zerschellten Flugzeugs. Einen Tag später ergab die Analyse der Daten, dass Andreas Lubitz den Airbus bewusst in den Sinkflug gebracht hatte.
Einsatzkräfte fanden am 2. April auch den Flugdatenschreiber des zerschellten Flugzeugs. Einen Tag später ergab die Analyse der Daten, dass Andreas Lubitz den Airbus bewusst in den Sinkflug gebracht hatte. © dpa | Duclet Stephane
Laut Staatsanwaltschaft Düsseldorf hatte sich Lubitz im Internet über Wege der Selbsttötung und den Schutz von Cockpit-Türen informiert.
Laut Staatsanwaltschaft Düsseldorf hatte sich Lubitz im Internet über Wege der Selbsttötung und den Schutz von Cockpit-Türen informiert. © REUTERS | REUTERS / RALPH ORLOWSKI
Deutschland vereint im Schmerz: Bei einer Trauerfeier im Kölner Dom gedachten am 17. April Angehörige, Bürger und die Staatsspitze der Opfer des Germanwings-Absturzes. Die Erschütterung war auch dreieinhalb Wochen nach der Katastrophe ...
Deutschland vereint im Schmerz: Bei einer Trauerfeier im Kölner Dom gedachten am 17. April Angehörige, Bürger und die Staatsspitze der Opfer des Germanwings-Absturzes. Die Erschütterung war auch dreieinhalb Wochen nach der Katastrophe ... © dpa | Oliver Berg
...noch greifbar. „Es ist etwas zerstört worden, das in dieser Welt nicht mehr geheilt werden kann“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck. Bei der zentralen Trauerfeier mit insgesamt 1400 Gästen versuchten Vertreter von Kirchen und Politik, den etwa 500 Angehörigen Trost zu spenden.
...noch greifbar. „Es ist etwas zerstört worden, das in dieser Welt nicht mehr geheilt werden kann“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck. Bei der zentralen Trauerfeier mit insgesamt 1400 Gästen versuchten Vertreter von Kirchen und Politik, den etwa 500 Angehörigen Trost zu spenden. © dpa | Oliver Berg
Knapp vier Wochen nach dem Absturz hatten die Helfer alle Wrackteile geborgen. Die Lufthansa hatte eine Spezialfirma mit den Aufräumarbeiten beauftragt. Die Überreste des Flugzeugs wurden per Hubschrauber abtransportiert und zunächst in einer Halle in Seyne-les-Alpes gelagert. Am 26. Mai 2015 kamen ...
Knapp vier Wochen nach dem Absturz hatten die Helfer alle Wrackteile geborgen. Die Lufthansa hatte eine Spezialfirma mit den Aufräumarbeiten beauftragt. Die Überreste des Flugzeugs wurden per Hubschrauber abtransportiert und zunächst in einer Halle in Seyne-les-Alpes gelagert. Am 26. Mai 2015 kamen ... © REUTERS | REUTERS / ROBERT PRATTA
... Angehörige zu einer Gedenkfeier nach Le Vernet in der Nähe der Absturzstelle. Flaggen repräsentierten einige der Nationalitäten der Opfer.
... Angehörige zu einer Gedenkfeier nach Le Vernet in der Nähe der Absturzstelle. Flaggen repräsentierten einige der Nationalitäten der Opfer. © REUTERS | REUTERS / ROBERT PRATTA
Elf Wochen nach dem Absturz von Flug U49525 wurden die 18 Opfer aus Haltern am See mit einer Kolonne weißer ...
Elf Wochen nach dem Absturz von Flug U49525 wurden die 18 Opfer aus Haltern am See mit einer Kolonne weißer ... © dpa | Rolf Vennenbernd
... Leichenwagen in ihre Heimatstadt gebracht.
... Leichenwagen in ihre Heimatstadt gebracht. © dpa | Marcel Kusch
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Dreizeiler vom Staatsanwalt

Radner befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung. Zwei Tage nach dem Unglück ist er an die Absturzstelle geflogen, seitdem hat er sich in „die Recherche“ gestürzt. Tausende Seiten von Ermittlungsakten hat er zusammen mit Anwalt Klaus Brodbeck akribisch durchforstet, ist auf Ungereimtheiten gestoßen und hat Strafanzeigen erstattet: gegen Fliegerärzte der Lufthansa, gegen Verantwortliche des Luftfahrtbundesamtes, gegen die Hausärztin sowie die Eltern und die Freundin des Todespiloten Andreas L. Einem Vernehmungsprotokoll hat er entnommen, dass die drei Angehörigen den seit Jahren mit psychischen Pro­blemen kämpfenden Lufthansa-Piloten nach dem Barcelona-Flug in seiner Düsseldorfer Wohnung empfangen wollten. „An einem normalen Werktag“, sagt Radner. „Der Vater ist sogar von seinem Arbeitsplatz in der Schweiz angereist. Warum?“ Und warum hat Andreas L. am Tag vor der Katastrophe eine Patientenverfügung unterschrieben („mit 27 Jahren!“), und seine Freundin am Absturztag Krankenakten und Medikamente in eine Tasche gepackt und aus der Wohnung geschafft?

Die Polizei habe keine Antworten auf diese Fragen gesucht, sagt Radner in ruhigem Ton, bevor sich seine Stimme hebt und dokumentiert, wie rasend ihn die aus seiner Sicht „Untätigkeit und fehlende Kommunikation“ der Ermittlungsbehörden macht. „Mit den Anzeigen will ich erreichen, dass endlich vernünftig ermittelt wird.“

Radner: „Ich will nur Aufklärung“

Radner will sich nicht mit der Erklärung für das Unvorstellbare zufrieden geben, dass der Copilot Selbstmord begangen hat. „Ich möchte, dass die Umstände aufgeklärt werden.“ Hätte das Unglück womöglich verhindert werden können, wenn angesichts der psychischen Labilität von Andreas L. Ärzte und Angehörige Alarm geschlagen hätten? „Wenn jeder Betroffene nachweisen kann, dass er nichts falsch gemacht hat, habe ich kein Problem damit.“

Die meiste Zeit des Gesprächs sitzt Radner ruhig auf seinem Bürostuhl. Dass ihn die Sache nach wie vor aufbringt, zeigt sich, wenn er sich über den Schreibtisch beugt und mit den Armen rudert. Radner will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, die Anzeigen stammten von einem verbitterten Vater in blinder Wut. „Ich habe nicht die Hasskappe auf“, sagt er, „es geht mir nicht darum, die Schuldfrage zu klären – das ist Sache der Gerichte. Ich will nur Aufklärung.“ Für Radner ist es ein verzweifelter „Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit“. Er kann nicht verstehen, dass die Mühlen der Justiz bisweilen langsam mahlen. „Von der Staatsanwaltschaft bekomme ich nur Dreizeiler, dass man die Anzeige verfolgen wird.“ Und dann höre er nichts mehr.

Was ist in den letzten Minuten an Bord des Airbus’ passiert? Auch eine Frage, die Radner quält. Die Passagierhandys seien für eine Verwertung unbrauchbar gewesen, heißt es. Radner zuckt mit den Schultern. „Ich habe Marias Geldbörse mit Pass und Kreditkarte bekommen. Fast unbeschädigt.“ Er will seinen Kampf weiterführen. Das sei er seiner Tochter schuldig. „Was soll ich denn machen?“