Washington. Innerhalb von zwei Tagen sterben zwei Schwarze in den USA durch Polizisten. Die Tragödien erreichen auch den Präsidentschaftswahlkampf.

Wieder sind es mit zittrigen Händen aufgenommene Handy-Videos, die vor allem das schwarze Amerika in Wallung und Verzweiflung bringen. Sie zeigen die neuesten Fälle von tödlicher Polizeigewalt. Ein bekanntes Phänomen, das aber spätestens seit dem Tod des Teenagers Michael Brown in Ferguson vor zwei Jahren die ewige Rassismus-Debatte in den Vereinigten Staaten neu entfacht hat. Die Opfer auch diesmal: Afro-Amerikaner, Männer.

In Baton Rouge/Louisiana starb der 37-jährige Alton Sterling nach einem Gerangel mit zwei Beamten vor einem Supermarkt. Der fünffache Familienvater wurde aus nächster Nähe, wehrlos am Boden liegend, mit mehreren Schüssen getötet.

Polizisten fühlten sich wohl bedroht

In der Nähe von St. Paul im US-Bundesstaat Minnesota traf es nur wenige Stunden später den 32-jährigen Philando Castile auf dem Beifahrersitz im Auto seiner Freundin; eine Polizeikontrolle war offenbar aus dem Ruder gelaufen, weil sich der Beamte bedroht fühlte.

In beiden Fällen bestätigt die Polizei nur die gröbsten Fakten, sämtliche Details sind noch unklar. Laut „Washington Post“ sind in diesem Jahr bereits über 500 Menschen in den USA Opfer der Polizei geworden, viele davon waren Schwarze, Latinos oder Angehörige anderer Minderheiten.

Verstärkt durch die sozialen Netzwerke, in denen Zigtausende anhand der wackligen Video-Bilder zu den jüngsten Vorfällen Stellung genommen haben, kam es in mehreren Städten seit Dienstagabend zu spontanen Demonstrationen. Allein in Baton Rouge protestierten Hunderte wütend an der Stelle, an der Sterling starb.

Bürgerrechtler kritisieren Unverhältnismäßigkeit

Angeführt von der Schwarzen-Bewegung „Black Lives Matter“ (Schwarzes Leben zählt) stellten Bürgerrechtler die aktuellen Tragödien in den Kontext der vergangenen Jahre. Laquan McDonald – in Chicago. Michael Brown – in Ferguson. Eric Garner – in New York. Tamir Rice – in Cleveland. Eric Harris – in Tulsa. Walter Scott – in North Charleston. Samuel DuBose – in Cincinnati.

Hinter allen Namen verbergen sich durch intensive Medienberichterstattung bekannt gewordene Todesfälle von Afro-Amerikanern, nach denen landesweit massivste Kritik am Gebaren der Polizei laut wurde. Der Kern-Vorwurf zielt auch diesmal in die gleiche Richtung: unverhältnismäßiger, unnötiger Gewalteinsatz.

Vor diesem Laden in Baton Rouge verkaufte Alton Sterling seine CDs. Dort ist kurz nach seinem Tod eine kleine Gedenkstätte entstanden.
Vor diesem Laden in Baton Rouge verkaufte Alton Sterling seine CDs. Dort ist kurz nach seinem Tod eine kleine Gedenkstätte entstanden. © REUTERS | Bryn Stole

Alton Sterling, ein 1,93 Meter großer und etwa 130 Kilogramm schwerer Mann, verkauft am frühen Dienstagmorgen wie so oft vor einem Spätkauf-Geschäft in Baton Rouge CDs; mit Erlaubnis des Ladenbesitzers Abdullah Muflahi. Nachdem bei der Polizei ein anonymer Alarmanruf eingeht, in dem ein Mann sagte, er fühle sich bedroht, gerät Sterling im Handumdrehen unter Verdacht. Zwei Beamte stellten den 37-Jährigen auf dem Parkplatz vor dem Geschäft. Nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung setzten die Cops einen Taser ein. Doch die Elektroschockwaffe bringt Sterling nicht zur Räson. Das schafft ein Beamter, wie auf dem Video zu sehen ist, wenig später mit roher Gewalt. Er reißt ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Dann kommt es zur Eskalation. Während beide Cops mit dem Mann am Boden ringen, ruft jemand: „Er hat eine Waffe!“. Einer der Beamten feuert Sekunden später, während er am Boden kniet, aus nächster Nähe mehrere Schüsse auf Sterling ab. Die Cops schreien wild durcheinander. Später wird dem Sterbenden ein Gegenstand aus der Tasche gezogen. Es soll sich um eine Waffe gehandelt haben. Das alles ist in einem Video zu sehen (Achtung, expliziter Inhalt.

Todesschützen fühlen sich im Recht

Die Polizeioberen in Louisiana, wo seit 2015 nach Zählung der Zeitung „The Advocate“ 38 Menschen von der Polizei erschossen wurden, darunter 21 Schwarze, reagieren sofort, nachdem das Video seinen Weg ins Internet findet. Die Todesschützen, die sich nach Angaben ihrer Anwälte „vollständig im Recht fühlen“, werden vom Dienst suspendiert. Polizeichef Carl Dabadie erklärt, es gebe „viele offene Fragen“. Louisianas Gouverneur John Bel Edwards spricht von einem „verstörenden“ Einsatz, „um das Mindeste zu sagen“. Das Justizministerium in Washington zieht die Untersuchungen an sich. Der Sprecher von Präsident Obama erklärt: „Egal, was die Nachforschungen ergeben, einer Familie ist der Vater genommen worden.“

Dann dauert es nur wenige Stunden, bis der Fall Alton Sterling den hitzigen Präsidentschaftswahlkampf erreicht. Hillary Clinton, die demokatische Kandidatin für die Nachfolge von Barack Obama, startet am Donnerstag ihre zaghafte Schuldzuweisung Richtung Behörden so: „Zu viele Afroamerikaner beweinen den Verlust eines geliebten Angehörigen durch einen Zwischenfall, an dem die Polizei beteiligt ist“. Es laufe „etwas grundsätzlich falsch, wenn so viele Amerikaner Grund haben zu glauben, dass unser Land sie wegen ihrer Hautfarbe nicht als gleichwertig betrachtet.“ Clinton verlangt „Reformen des gesunden Menschenverstands“, um das Vertrauen zwischen Polizeistellen und Gemeinden zu stärken. Konkret: Polizeieinsätze, die sich an ethnischen Merkmalen orientieren (schwarze Hautfarbe etc.) seien umgehend einzustellen. Dazu müsse innerhalb der Polizeiausbildung mehr Wert auf Deeskalation gelegt werden.

Vierjährige Tochter saß auf der Rückbank

Für Philando Castile kommen die Forderungen zu spät. Was dem Aufseher einer Cafeteria in einem Vorort von St. Paul/Minnesota widerfuhr, löste, gemessen an der Beweiskraft des von seiner Freundin aufgenommenen Handy-Videos, noch mehr Entsetzen aus. Die Aufnahmen – hier der Link zu dem explizitem Inhalt - zeigt einen blutüberströmten Mann auf dem Beifahrersitz eines Autos. Vor ihm am offenen Fenster ein hektisch schreiender Polizist mit gezückter Waffe.

Lavish Reynolds berichtete laut Lokalzeitungen, dass sie wegen eines defekten Rücklichts angehalten worden seien. Als ihr Freund, ein lizensierter Waffenbesitzer, die Fahrzeugpapiere herausholen wollte, seien vier Schüsse gefallen. Castile brach wenig später im Auto zusammen. Im Krankenhaus wurde sein Tod festgestellt. Die junge Frau filmte alles. Bis Donnerstag klickten über zwei Millionen ihr Video auf Facebook an. Sie ist nicht die einzige Zeugin. Auf der Rückbank saß die vierjährige Tochter des Opfers. Im Video hört man ihre Stimme. „Alles ist gut, Mama. Alles ist gut, ich bin bei dir.“