Berlin. Immer mehr Mütter machen eine Kur. Zeitdruck und die Belastung durch den Beruf machen ihnen zu schaffen. Auch Väter sind betroffen.

„Ich kann nicht mehr.“ Es dauert lange, bis Mütter diesen Satz nicht nur denken, sondern auch aussprechen. Noch länger dauert es oft, bis sie sich Hilfe suchen: „Viele Mütter glauben, dass sie die einzigen sind, die Beruf, Kinder und Haushalt nicht mehr schaffen“, sagt Anne Schilling vom Müttergenesungswerk. „Wenn sie dann aber auf andere erschöpfte Frauen treffen, sehen sie, dass sie nicht die einzigen sind.“ Im Gegenteil: Umfragen legen nahe, dass in Deutschland rund zwei Millionen der etwa acht Millionen Mütter mit minderjährigen Kindern kurbedürftig wären – doch weniger als fünf Prozent können oder wollen sich eine Auszeit nehmen.

Dabei gibt es immer mehr ausgebrannte Mütter: 2015 ist die Zahl der Frauen, die wegen Erschöpfung eine Kur beim Müttergenesungswerk gemacht haben, weiter gestiegen. Bei neun von zehn Frauen wurden schwere Erschöpfungszustände, Depressionen, Angst- und Schlafstörungen festgestellt. „Erschreckend ist die stetig wachsende Zahl von Erschöpfungszuständen – inzwischen kommen 87 Prozent aller Mütter mit dieser Indikation in die Klinik“, sagte die Kuratoriumsvorsitzende und SPD-Politikerin Dagmar Ziegler bei der Vorstellung des Jahresberichts des Genesungswerks in Berlin. Allein zwischen 2003 und 2013 ist die Zahl der Erschöpfungsdiagnosen um mehr als 30 Prozent angewachsen.

49.000 Mütter haben eine Kur gemacht

„Viele Frauen denken erst ganz zum Schluss an sich selbst“, beobachtet Schilling. Erst wenn sie nicht mehr funktionieren, wenn der Körper streikt, weil die Belastung zu groß ist, ziehen sie die Reißleine. Und haben oft selbst dann noch ein schlechtes Gefühl, weil Scheitern nicht in ihr Selbstbild passt: „Sie wollen besonders gute Mütter sein, sie wollen die gesellschaftlichen Anforderungen oft noch toppen.“ Dabei sind die üblichen Anforderungen schon immens: Mütter wollen und sollen ihre Kinder vom ersten Schritt bis zum glänzenden Abitur liebevoll betreuen und fördern. Sie sollen aber auch so schnell wie möglich zurück in den Job, um die Sozialkassen und ihr eigenes Rentenkonto zu füllen. Sie wollen eine partnerschaftliche Beziehung und sehen, dass der Großteil der Hausarbeit an ihnen kleben bleibt. Und immer mehr kümmern sich um die Pflege von Angehörigen.

Rund 49.000 Mütter haben im vergangenen Jahr eine Kur beim Müttergenesungswerk gemacht. Drei von zehn Frauen waren alleinerziehend, die große Mehrheit war berufstätig, knapp 20 Prozent sogar in Vollzeitjobs. Jede fünfte Frau musste mit einem Haushalteinkommen von weniger als 1500 Euro im Monat auskommen, 16 Prozent hatten ausländische Wurzeln. Die Zahl der Männer, die Vater-Kind-Kuren in den Kliniken des Müttergenesungswerks machen, liegt deutlich niedriger, stieg im letzten Jahr aber immerhin um 24 Prozent auf rund 1500 Männer an. Auch bei den Vätern kamen die meisten mit Erschöpfungssymptomen. Kein Wunder: Jeder Zweite arbeitete über 40 Stunden pro Woche. „Wenn sie dazu noch familienbezogene Aufgaben wahrnehmen, kommen auch Männer an ihre Grenzen und werden krank“, sagt Ziegler. Dass sich nicht viel mehr erschöpfte Väter zu Kuren melden, liege auch an der fehlenden öffentlichen Akzeptanz: „Das kollidiert mit dem Männerbild“, glaubt Schilling.

Auch pflegende Angehörige können Kuren beantragen

Auf die Frage, was Mütter und Väter am meisten belastet, antworteten beide Gruppen unisono: der ständige Zeitdruck und die Belastung durch den Beruf. Viele Mütter leiden darüber hinaus an mangelnder Anerkennung und fehlender Unterstützung in ihrem Umfeld. Hinzu kommen Geldsorgen, Erziehungsprobleme und Ärger mit dem Partner. „Unsere Ärzte beobachten, dass die Frauen immer kränker in die Kur kommen“, sagt Schilling.

Anders als in der Vergangenheit lehnen die Krankenkassen mittlerweile nur noch 11 Prozent der Anträge ab – vor fünf Jahren waren es noch 35 Prozent. Und selbst von den abgelehnten Antragstellerinnen bekamen die meisten im zweiten Anlauf doch einen Kurplatz. Schilling führt das auf die geänderten Richtlinien für die Begutachtung zurück. „Frauen haben heute so gute Chancen auf eine Kur wie nie.“

Doch nach wie vor wissen viele gar nicht, welche Ansprüche sie haben: Während die klassischen Mutter-Kind-Kuren den meisten bekannt sind, wissen nur wenige, dass es auch Angebote nur für Mütter oder für pflegende Angehörige gibt. Dabei ist gerade hier der Bedarf besonders hoch: Rund 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, hauptsächlich von Frauen. „Wir wissen, dass bereits heute ein Viertel aller Mütter in Mütter-Kliniken Angehörige pflegen und wir wissen auch, dass rund ein Drittel derjenigen, die pflegen, selbst aufgrund der zusätzlichen Belastungen erkranken“, sagt Schilling. Seit 2012 gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf Kurmaßnahmen für alle pflegenden Frauen und Männer. „Dies ist leider bei den Betroffenen nicht richtig bekannt.“ Hinzu kommt: „Viele tun sich schwer damit, ihren Angehörigen allein zu lassen.“ Oft auch deshalb, weil sich der Pflegebedürftige weigert, von fremden Menschen versorgt zu werden.