Pretoria. Wie lange muss Oscar Pistorius für den Tod seiner Freundin ins Gefängnis? Nach dem Urteil 2015 wird nun über das Strafmaß entschieden.

Wer ist der wahre Oscar Pistorius? Ein gebrochener Sportstar, der den tragischen Tod seiner Freundin Reeva Steenkamp bitterlich bereut? Oder ein gewalttätiger Lügner, der sich der Verantwortung für seine vor mehr als drei Jahren begangene Tat möglichst ungeschoren zu entziehen sucht? Nach zwei Prozessjahren und Hunderten Zeugenaussagen, Kreuzverhören und Plädoyers ist weder das Geheimnis um die genauen Vorgänge in Pistorius’ Villa in der Nacht zum 14. Februar 2013 noch das Rätselraten um die Motive und den Charakter des „schnellsten Manns ohne Beine“ wirklich aufgeklärt. Nach eigener Aussage hat Pistorius seine Freundin Reeva Steenkamp damals mit vier Schüssen durch eine geschlossene Tür getötet, weil er sie irrtümlich für einen Einbrecher hielt.

Pistorius war in erster Instanz wegen fahrlässiger Tötung zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde nach einem Jahr in Hausarrest umgewandelt. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein und erzielte Ende 2015 in zweiter Instanz eine Verurteilung wegen Totschlags. Darauf stehen im südafrikanischen Rechtssystem bei nicht einschlägig vorbestraften Tätern mindestens 15 Jahre Haft, maximal 20 Jahre.

Jetzt hat die wohl endgültig letzte Runde in dem Mammutprozess um den beinamputierten Olympioniken begonnen, doch die entscheidenden Fragen in dem weltbewegenden Verfahren scheinen einer Beantwortung kaum näher gekommen zu sein. Dabei muss Richterin Thokozile Masipa in den nächsten Tagen darüber befinden, wie lange der des Totschlags für schuldig befundene Ausnahmesportler hinter Gitter muss: Werden es 15 Jahre sein? Oder kommt Pistorius mit einer Geldstrafe davon?

Pistorius will nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen

Psychologieprofessor Jonathan Scholtz sprach gleich von „drei Oscar Pistorius’“, die bei seinen Gesprächen mit dem gefallenen Sportler zum Vorschein gekommen seien. Scholtz hatte Pistorius’ psychologischen Gesundheitszustand bereits 2014 für den Prozess in der ersten Instanz beurteilt.

Der erste „Oscar“ sei der selbstbewusste Ausnahmeathlet, der mit seinen Prothesen zu einem weltweit gefeierten Idol aufgestiegen war. Der Zweite der verwundbare Behinderte, der ohne seine künstlichen Gehhilfen „verletzlich und außergewöhnlich unsicher“ sei. In jüngster Zeit sei ihm außerdem ein dritter „Oscar“ begegnet, fügte der Zeuge der Verteidigung hinzu: Ein „gebrochener Mensch“, der unter schweren Depressionen und posttraumatischem Belastungssyndrom leide. „Er ist mental am Ende.“ Nach Scholtz’ Worten bereut Pistorius den Tod seiner Freundin aufs Tiefste. Pistorius sei heute antriebsschwach, ängstlich und traumatisiert, fügte der Psychologe hinzu: Er habe sämtliche seiner Schusswaffen verkauft und geschworen, „nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen“.

Anklage nimmt Pistorius die Reue nicht ab

Diese wohlwollende Beschreibung suchte Staatsanwalt Gerrie Nel im Kreuzverhör als bloße Strategie der Verteidigung zu entlarven. Für Nel ist Pistorius ein Lügner, der noch immer nicht die volle Verantwortung für seine Tat übernommen habe. Das werde unter anderem dadurch deutlich, dass er die Abgabe der Schüsse manchmal als bloßes Versehen, manchmal als Selbstverteidigung ausgegeben habe. Noch immer kursieren in Südafrika außerdem Berichte, wonach Pistorius seine Freundin damals absichtlich im Streit erschossen habe: Erst kürzlich wurde ein Buch mit dieser These veröffentlicht.

Pistorius’ Auftritt im Gerichtssaal schien allerdings dem Psychologieprofessor recht zu geben. Der in einem schwarzen Nadelstreifenanzug gekleidete 29-Jährige bewegte sich wesentlich unsicherer als während des vor zwei Jahren begonnenen Hauptverfahrens. Im Gespräch mit den zahllosen Verwandten, die zum Prozess erschienen waren, brach er in den Pausen der Verhandlung immer wieder in Tränen aus. Dem Verurteilten könne eine Aussage während der mindestens dreitägigen Anhörung nicht zugemutet werden, sagte Scholtz. Die Staatsanwaltschaft wird in den kommenden Tagen vermutlich auch den Vater der ermordeten Reeva Steenkamp als Zeugen aufrufen.