Marseille/Berlin. Die Krawalle bei der EM in Frankreich wirken so heftig wie lange nicht mehr. Experten erwarten, dass dies nicht die letzten waren.

Ein Mann hat sich mit einem Stuhl bewaffnet. Läuft hinter einem anderen her. Und schlägt mit voller Wucht zu. Solche Szenen ereigneten sich am Samstag in Marseille, vor dem Spiel England gegen Russland. Am Sonntag gingen deutsche Hooligans mit Stühlen und Fäusten auf Ukrainer los. Die wichtigsten Fragen zu den Hooligankrawallen bei der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich.

Was ist passiert?

Schon zwei Tage vor dem Spiel gerieten Engländer und Russen aneinander. Die Lage eskaliert vor dem Spiel: Am Samstagnachmittag kommt es zu Straßenschlachten zwischen Hooligans. Die Polizisten setzen Tränengas ein, greifen zu ihren Schlagstöcken. Die Hooligans sind stark alkoholisiert. „Die haben sich hier ab dem Mittag zugeschüttet“, erzählt später Guillaume R., Geschäftsführer einer Bar im alten Hafen von Marseille. Ein englischer Mann wird mit einer Metallstange am Kopf getroffen. Er schwebt in Lebensgefahr, sagt Polizeipräfekt Laurent Nunez. Am Ende des Spiels, kurz vor dem 1:1-Ausgleich der Russen, gibt es Krawalle in einer Fankurve. Russen stürmen auf Engländer zu. Nach dem Spiel gehen die Krawalle in der Innenstadt weiter. Mit dabei laut Polizei: Ultras des heimischen Klubs Olympique Marseille. Am Ende des Tages sind 44 Menschen verletzt. Die Uefa droht Russen und Engländern mit Sanktionen – es drohen Punktabzug oder gar EM-Ausschluss.

Hooligan-Krawalle in Marseille

Es sind Szenen, die niemand bei einer Fußball-EM sehen möchte. Die Partie zwischen England und Russland (1:1) war fast vorbei, als russische Anhänger über Absperrungen kletterten und auf englische Fans losgingen. Viele Briten versuchen, aus ihrem Fanblock zu fliehen.
Es sind Szenen, die niemand bei einer Fußball-EM sehen möchte. Die Partie zwischen England und Russland (1:1) war fast vorbei, als russische Anhänger über Absperrungen kletterten und auf englische Fans losgingen. Viele Briten versuchen, aus ihrem Fanblock zu fliehen. © dpa | Daniel Dal Zennaro
Es sind Jagdszenen: Dutzende russische Gewaltfans greifen im Stade Vélodrome englische Anhänger an, beschießen sie auch mit Leuchtraketen.
Es sind Jagdszenen: Dutzende russische Gewaltfans greifen im Stade Vélodrome englische Anhänger an, beschießen sie auch mit Leuchtraketen. © dpa | Daniel Dal Zennaro
Menschen, die bereits am Boden liegen, werden weiter verprügelt. Insgesamt wurden am Samstag laut Angaben der französischen Behörden 35 Menschen verletzt, davon vier schwer.
Menschen, die bereits am Boden liegen, werden weiter verprügelt. Insgesamt wurden am Samstag laut Angaben der französischen Behörden 35 Menschen verletzt, davon vier schwer. © imago/Sportimage | imago sportfotodienst
Dieser britische Fan wird von gleich mehreren Hooligans geschlagen und getreten.
Dieser britische Fan wird von gleich mehreren Hooligans geschlagen und getreten. © dpa | Peter Powell
Einige Fans können sich in den Innenraum des Stadions retten.
Einige Fans können sich in den Innenraum des Stadions retten. © Getty Images | Alex Livesey
Die Ordner waren mit der Situation sichtlich überfordert.
Die Ordner waren mit der Situation sichtlich überfordert. © imago/Bildbyran | imago sportfotodienst
Bereits während des Spiels hatten sich russische Fans vermummt und Bengalos abgefackelt.
Bereits während des Spiels hatten sich russische Fans vermummt und Bengalos abgefackelt. © imago/BPI | imago sportfotodienst
Anschließend gingen die Ausschreitungen im alten Hafen von Marseille und an anderen Orten der Stadt weiter.
Anschließend gingen die Ausschreitungen im alten Hafen von Marseille und an anderen Orten der Stadt weiter. © REUTERS | JEAN-PAUL PELISSIER
Polizisten der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS), vergleichbar mit der deutschen Bereitschaftspolizei, patrouillieren im Zentrum der Stadt. Die Polizei hatte angekündigt, hart gegen die Gewalt vorzugehen, ...
Polizisten der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS), vergleichbar mit der deutschen Bereitschaftspolizei, patrouillieren im Zentrum der Stadt. Die Polizei hatte angekündigt, hart gegen die Gewalt vorzugehen, ... © dpa | Oliver Weiken
... und setzte dabei auch Wasserwerfer ...
... und setzte dabei auch Wasserwerfer ... © dpa | Tolga Bozoglu
... und Tränengas ein. Kritiker werfen den französischen Sicherheitsbehörden vor, dass die Polizisten überfordert und übermüdet seien. Seit den Pariser Terroranschlägen im November 2015 hat die Belastung für die Beamten stark zugenommen.
... und Tränengas ein. Kritiker werfen den französischen Sicherheitsbehörden vor, dass die Polizisten überfordert und übermüdet seien. Seit den Pariser Terroranschlägen im November 2015 hat die Belastung für die Beamten stark zugenommen. © dpa | Tolga Bozoglu
Bereits am Samstagnachmittag war es am alten Hafen von Marseille zu Ausschreitungen gekommen.
Bereits am Samstagnachmittag war es am alten Hafen von Marseille zu Ausschreitungen gekommen. © dpa | Daniel Dal Zennaro
Neben russischen und englischen Anhängern waren auch Einheimische beteiligt – vermutlich Ultras von Olympique Marseille.
Neben russischen und englischen Anhängern waren auch Einheimische beteiligt – vermutlich Ultras von Olympique Marseille. © dpa | Guillaume Horcajuelo
Die Polizei nahm einige Randalierer fest. Auch zivile Streifen waren im Einsatz.
Die Polizei nahm einige Randalierer fest. Auch zivile Streifen waren im Einsatz. © REUTERS | JEAN-PAUL PELISSIER
Der Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern zeigte oft nur kurz Wirkung. Immer wieder gingen die Hooligans aufeinander los – oder lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei.
Der Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern zeigte oft nur kurz Wirkung. Immer wieder gingen die Hooligans aufeinander los – oder lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. © dpa | Guillaume Horcajuelo
Zehn Personen waren laut der französischen Nachrichtenagentur am Sonntag noch in Polizeigewahrsam. Auch aus Nizza wurden am Samstagabend Ausschreitungen gemeldet.
Zehn Personen waren laut der französischen Nachrichtenagentur am Sonntag noch in Polizeigewahrsam. Auch aus Nizza wurden am Samstagabend Ausschreitungen gemeldet. © Carl Court
Viele Geschäfte und Bars am alten Hafen waren geschlossen. Der Platz, auf dem sich sonst Touristen tummeln, ist an vielen Ecken von zerbrochenen Bierflaschen bedeckt – neben Stühlen das wohl beliebteste Wurfgeschoss der Gewaltfans.
Viele Geschäfte und Bars am alten Hafen waren geschlossen. Der Platz, auf dem sich sonst Touristen tummeln, ist an vielen Ecken von zerbrochenen Bierflaschen bedeckt – neben Stühlen das wohl beliebteste Wurfgeschoss der Gewaltfans. © dpa | Guillaume Horcajuelo
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Was ist schiefgelaufen?

Vor der EM konzentrierte sich die Polizei vor allem auf das, was Frankreich am 13. November 2015 in Paris erlebt hatte: die Gefahr durch islamistischen Terror. Gegenüber den Hooligans wirkte die Polizei in Marseille zum Teil hilflos und überfordert. Die Polizisten sind seit dem Terror im Dauereinsatz, viele sind am Ende ihrer Kräfte, sagen Experten. Bei den Auseinandersetzungen im Stade Vélodrom funktionierte, das gestand die Uefa am Sonntag offiziell ein, die Trennung der Fans nicht. Ordner schauten tatenlos zu. Später griffen Polizisten mit einer speziellen Nahkampfausbildung ein. Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft glaubt, dass die Gewalt hätte verhindert werden können. „Ich wundere mich darüber, dass im Stadion eine gewaltbereite Fangruppe relativ leicht in den anderen Fanblock eindringen kann“, sagte Wendt unserer Redaktion. Es gebe Hinweise, dass vor dem Stadion nur oberflächlich kontrolliert worden sei. Die Uefa plant, die Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien zu verstärken.

Droht jetzt noch mehr Gewalt?

Sicherheitsexperten gehen davon aus. Deutschland hat etwa 2500 Namen bekannter Hooligans an die Franzosen übermittelt. 15 der 36 Vorrundenspiele sind als Risikospiele eingestuft. Dazu gehört auch die Partie Deutschland gegen Polen am Donnerstag in Paris. Die deutschen Behörden haben potenziellen Störern schon vor Wochen klargemacht, dass sie beobachtet werden, in sogenannten Gefährderansprachen. Der Deutsche Fußball-Bund verkauft seine Tickets nur über den eigenen Fanklub. Aus Deutschland sind Sozialarbeiter und „szenenkundige“ Polizisten in Frankreich unterwegs. „Das Spiel England gegen Russland war ein Höhepunkt der Hooligangewalt, bleibt aber mit Sicherheit kein Einzelfall bei dieser Europameisterschaft“, sagte Rainer Wendt. „Auch deutsche Hooligangruppen werden sicherlich versuchen, Gewalt in den Städten auszuüben.“

Was wollen die Hooligans?

Es geht um Männlichkeitsfantasien, Ehre – und um Gewalt. Und: Neben weniger politischen Schlägergruppen und linken Hooligans mischen vor allem Rechtsextreme mit. Ihr neues Feindbild: Islam und Islamisten. In Marseille riefen britische Hooligans auch Slogans wie „Isis, where are you? We’ve got pork on the barbecue.“ (Was übersetzt so viel heißt wie: „Islamischer Staat“, wo bist du? Wir haben Schweinefleisch auf dem Grill.) In Deutschland attackierten Hooligans in jüngster Vergangenheit antirassistische Fangruppen in Aachen oder Duisburg. Zeitweilig vernetzten sie sich unter dem Namen „Hogesa“ (Hooligans gegen Salafisten) und prügelten sich in Köln mit der Polizei. Anhänger von Dynamo Dresden sind bei der fremdenfeindlichen Bewegung Pegida dabei. Auch in anderen europäischen Ländern machen Hooligans Stimmung gegen Flüchtlinge. So schlagkräftig wirkte die Szene nicht mehr seit den 90er-Jahren.