Vancouver. Norma Bastidas wurde vergewaltigt und von Menschenhändlern verkauft. Eines morgens begann sie zu laufen – der Sport rettete ihr Leben.

Norma Bastidas sagt nicht „Kilometer“, das Wort ist zu lang. Sie misst Entfernungen nur in „K’s“. Sie ist 120 K’s durch Australiens Outback gerannt, 217 K’s durch Brasiliens Urwald und 175 K’s durch das Schweizer Juragebirge. Die 48 Jahre alte Frau hält den Rekord für den längsten Triathlon der Welt: 6054 K’s Laufen/Schwimmen/Radfahren in 56 Tagen, von Cancún in Mexiko nach Washington. Man kann sagen: Norma Bastidas hat in den vergangenen zehn Jahren so häufig ihre körperlichen Grenzen ausgelotet, wie es ein Mensch überhaupt machen kann. Demnächst wird die Welt in einem Dokumentarfilm mehr über ihr Leben erfahren.

Doch ob sie mit diesem Interesse an ihr umgehen kann, ist noch unklar: Als sie in einem Videotelefonat über den Tag sprechen soll, an dem sie das Laufen für sich entdeckt hat, nimmt sie ihre Brille ab und wischt sich die Tränen weg. „Es tut mir leid“, sagt sie, „aber es kommt alles noch einmal hoch, es war eine furchtbare Zeit.“ Sie hatte gedacht, dass es leichter werde, wenn sie darüber spreche. „Aber nichts wird leichter, der Schmerz wird immer da sein.“

Menschenhändler zogen ihren Pass ein und verkauften sie

Denn das ist die andere Geschichte von Norma Bastidas: Als sie elf Jahre alt war, wurde sie von ihrem Großvater über längere Zeit in Mexiko vergewaltigt. Dass jemand, der ihr so nah war, diese Nähe ausnutzte, hat sie bis heute nicht verwunden. „Er ist einer der wenigen Menschen, die ich noch immer hasse.“ Die anderen, die dieses Gefühl von ihr verdienen, sind japanische Menschenhändler. „Ich war jung und naiv“, sagt sie heute über die Zeit. Sie zog mit 18 Jahren nach Japan, weil ihr ein Job in einer Bar versprochen wurde. Doch sie fiel kurz nach ihrer Ankunft einem Menschenhändlerring in die Hände. Sie nahmen ihr den Pass weg, setzten sie unter Drogen und zwangen sie zum Sex mit fremden Männern, verkauften sie schließlich. Sie befreite sich selbst aus dem Gefängnis und lief zur Polizei. Dort sagte man ihr, sie sei selbst Schuld an ihrer Lage.

Jahre später, trotz der anhaltenden Angstzustände und wiederkehrenden Albträume, sagt sie: „Ich fühle mich gesegnet mit meinem Leben.“ Das ist ein Satz, den sie erklären muss. „Ich kann das sagen“, sagt sie, „weil ich aus allem stärker hervorgegangen bin.“ Es habe viele Situationen gegeben, damals in Japan, in denen sie dem Tod nahe war. „In meinen schlimmsten Momenten habe ich mir selbst Wunden zugefügt“, sagt sie, „auch, weil ich nicht mehr leben wollte.“ Die Narben aus dieser Zeit nennt sie die „schlechten Narben“. Die Verletzungen vom Laufen sind die „guten Narben“. Die haben sie gerettet.

Eines morgens schlich sich Norma Bastidas aus dem Haus: „Ich begann zu laufen, damit ich weinen konnte, ganz für mich allein.“
Eines morgens schlich sich Norma Bastidas aus dem Haus: „Ich begann zu laufen, damit ich weinen konnte, ganz für mich allein.“ © iEmpathize/Stuart Gradon | iEmpathize/Stuart Gradon

Später zog sie nach Kanada, verliebte sich, bekam zwei Söhne, arbeitete in einer Agentur – als wieder alles um sie herum zerbrach. Norma Bastidas war 38 Jahre alt, ihr Job war weg, genauso wie die Ersparnisse, ihr Mann hatte sie verlassen und bei ihrem ältesten Sohn wurde eine unheilbare Augenkrankheit festgestellt. Ihr Sohn erblindete, sie konnte nichts tun. Sie tat damals das, was sie aus Japan noch kannte: trinken. „Aber Alkohol“, sagt sie heute, „betäubt einen nur, sodass man nicht die Kraft hat, die großen Probleme zu lösen.“ Eines morgens, um 3 Uhr, schlich sie sich aus dem Haus. „Ich begann zu laufen, damit ich weinen konnte, ganz für mich allein.“

Ihren ersten Marathon rannte sie in 3:28 Stunden

Norma Bastidas spricht über das Laufen wie über eine Religion: „Beim Rennen kann ich träumen“ oder „Rennen macht mich wirklich glücklich“. Für Bastidas geht es um das Erlebnis: Sich etwas vornehmen, möglichst ein unerreichtes Ziel – und das dann umsetzen. Nur wenige Monate nach ihrem ersten Nacht-Jogging lief sie in Boston ihren ersten Marathon. Sie kam nach 3 Stunden und 28 Minuten ins Ziel.

„Von da an wusste ich“, sagt sie, „dass ich ein Talent zum Laufen habe.“ Ihr Psychologe warnte sie, sie habe eine „obsessive“ Seite beim Laufen. „Ich habe das sehr ernst genommen“, sagt sie, „als Hinweis, dass ich mein Limit kennen sollte.“ Die meisten Rennen habe sie erfolgreich beendet, ob durch die Wüste Gobi oder die russische Taiga. Nur in der Antarktis brach sie ab, sie hatte sich verletzt und bei Minus 50 Grad mit Rückenschmerzen im Eismeer verloren zu gehen, das war ihr zu riskant. „Dabei gehört Schmerz für mich zum Leben“, sagt sie. „Schmerz ist etwas Temporäres, mit dem ich umzugehen gelernt habe.“

Auf diesen Läufen trifft sie auf andere geschundene Biografien, sie motiviert andere Opfer von Menschenhändlern, sichtbar zu werden. „Nur drei Prozent aller Vergewaltigungen werden angezeigt, nur ein Prozent verurteilt, es gibt zu viel Scham“, sagt sie. Noch immer sammelt sie Geld für die Erforschung der Augenkrankheit ihres Sohnes. Dabei gehe es ihm gut, sagt sie, der 21-Jährige arbeitet – ausgerechnet – als Künstler: Er malt Bilder und schafft Skulpturen.

Er ist dabei genauso konsequent wie seine Mutter, die den Film über ihr Leben „Be Relentless“ („Sei gnadenlos“) beim Sundance Filmfestival einreichen will. Norma Bastidas sagt: „Ich gebe nicht auf, bevor ich es nicht einmal versucht habe.“ So war das auch, als sie sich vor ein paar Jahren vornahm, in ihre Geburtsstadt zu laufen, nach Mazatlán. Es war ihr längster Lauf: 4128 K’s. Sie verabschiedete sich am Morgen von den Söhnen, trat vor das Haus – und lief dorthin, wo alles begann.