Wilhelmshaven. 30 Pottwal-Jungbullen starben zu Jahresbeginn an den Küsten der Nordsee. Experten glauben, den Tieren fehlte es an Traditionswissen.

Pottwale, die tot am Strand von Wangerooge liegen oder qualvoll vor der niederländischen Insel Texel verenden – diese Bilder haben zu Jahresbeginn viele Menschen verstört. Im Januar strandeten 30 gut zehn bis 15 Meter lange Meeressäuger an der Nordseeküste. Auf einer Konferenz in Wilhelmshaven diskutieren Experten am Mittwoch, wie es dazu kommen konnte.

Woran sind die Pottwale gestorben?

Die Wale sind nach Ansicht von Experten an den Folgen der Strandung gestorben. „Sie haben einen sehr gesunden Eindruck gemacht“, sagt Ursula Siebert von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Sie hat die 16 Tiere untersucht, die an der deutschen Nordseeküste verendet sind. Sie hätten weder eine Infektion gehabt noch ein Trauma erlitten. Beim Stranden geraten die Tiere in körperlichen Stress, es kommt zum Herz-Kreislauf-Versagen.

Beunruhigt zeigten sich die Wissenschaftler über die großen Mengen Plastikmüll, die sie bei mehreren Tieren im Magen fanden.

Wieso stranden die Tiere?

Dazu gibt es mehrere Theorien: natürliche Ursachen wie Veränderungen im Magnetfeld der Erde, seismische Aktivitäten oder vom Menschen verursachte Faktoren wie Unterwasserlärm beim Erkunden von Öllagerstätten, beim Bau von Windkraftanlagen oder durch laute Schnellfähren, militärisches Sonar oder das Echolot von Freizeitskippern.

Experten des Vereins „Pottwale“ sind sich nach Auswertung diverser Studien sicher, dass vor allem ungewöhnlich hohe Wassertemperaturen im Nordatlantik bei Walstrandungen eine Rolle spielen. Auch im Januar seien diese zu verzeichnen gewesen. Dadurch seien die Beutetiere der männlichen Pottwale, die Tintenfische, weiter in den Süden vorgedrungen. Die Wale seien ihnen gefolgt, vermutet auch Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Husum.

Auf dem Weg zurück zu den Azoren – dort leben die Weibchen die meiste Zeit des Jahres – seien die Wale, allesamt Jungbullen, bei Schottland dann falsch abgebogen, erklärte der Meeresbiologe Harald Benke, Direktor des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund, im Februar. Statt westlich an Großbritannien vorbei seien die Tiere Richtung Osten in die Nordsee geschwommen.

Endet ein Ausflug in die Nordsee für Pottwale immer tödlich?

Das ist schwer zu sagen, weil die Tiere normalerweise erst entdeckt werden, wenn sie schon gestrandet sind. Auf jeden Fall fällt ihnen die Orientierung in der Nordsee schwer. „Das Wasser ist dort zu flach. Da versagt ihr Ortungssystem, weil die zurückgeworfenen Schallwellen sie verwirren“, sagt die Meeresschutzexpertin Stefanie Werner vom Umweltbundesamt (UBA).

Rettungsversuche haben meist wenig Erfolg. Harald Benke zufolge müsste man den Walen ein Geschirr anlegen, damit die gut 20 Tonnen schweren Tiere beim Schleppen nicht verletzt werden. Für Delfine gebe es solche Geräte, für Pottwale nicht.

Stranden heute mehr Wale als früher?

Walstrandungen kommen immer wieder vor. Dokumentiert sind diese seit dem 16. Jahrhundert. Laut Harald Benke sind seit den 90er-Jahren an dänischen, niederländischen und deutschen Küsten etwa 80 Wale angespült worden, selten aber seien es so viele auf einmal gewesen wie in diesem Jahr.

Nach Angaben von Rainer Borcherding hat eine britische Studie ergeben, dass seit den 60er-Jahren vermehrt Jungbullengruppen stranden. Diese sind in Gruppen von bis zu 50 Tieren unterwegs. Ein möglicher Grund: Bei den Waljagden bis in die 80er-Jahre seien überwiegend die massigen Altbullen getötet worden, sagt der Umweltschützer: „Dadurch ist möglicherweise Traditionswissen verloren gegangen. Die Jungbullen müssen heute auf die harte Tour lernen, dass es ein fataler Fehler ist, in die Nordsee zu schwimmen.“

Was sagt ihr Tod über den Zustand der Nordsee aus?

Erst einmal nichts. Wegen des Plastikmülls in den Walmägen aber sprechen Wissenschaftler und Umweltschützer von einem Warnsignal. „Da sieht man, wie stark die Nordsee belastet ist“, sagt Stefanie Werner. Das UBA hat die Müllfunde der vergangenen 30 Jahre aus Grundschleppnetzen ausgewertet: Danach kommen durchschnittlich elf Kilogramm Plastik auf einen Quadratkilometer Meeresboden.

Warum sind vermüllte Meere weltweit ein Problem?

Plastiktüten, alte Fischernetze und anderer Kunststoffmüll werden durch Wind, Wetter und Gezeiten zu sogenanntem sekundären Mikroplastik zerkleinert. Dieses wird von vielen Meerestieren mit Nahrung verwechselt und kann zu Verletzungen des Verdauungstraktes führen, die Verdauung behindern oder gar die Nahrungsaufnahme völlig blockieren. Mikropartikel aus Kunststoff können zudem zu einem Transportmittel für Schadstoffe und Krankheitserreger werden.

Laut Angaben des UBA schwimmen etwa 140 Millionen Tonnen Plastik in den Meeren. Nach Einschätzung der Umweltorganisation Greenpeace kommen pro Jahr bis zu 13 Millionen Tonnen hinzu. Plastik hat eine Lebensdauer von bis zu 400 Jahren.

Von 663 Meerestierarten sei bekannt, dass sie negativ von diesem Müll betroffen seien, berichtet das UBA. Mehr als die Hälfte dieser Arten nehme Kunststoffabfälle auf oder verfange sich in ihnen. Den umfassendsten Datensatz gibt es dem Amt zufolge für Eissturmvögel. Die Analyse der Mägen von gestrandeten Tieren in der südlichen Nordsee ergab: „95 Prozent der Vögel hatten durchschnittlich 30 Plastikstücke im Magen“.

Wie kann dem Problem begegnet werden?

Ein Netzwerk aus deutschen Unternehmen will weltweit Plastikmüll aus den Meeren ziehen. Das Konzept sieht vor, dass eine Flotte aus umgebauten Schiffen mit Netzen in stark betroffenen Gebieten Plastikmüll abfischt, der auf einem Spezialschiff zur Energiegewinnung aufbereitet oder recycelt wird. Die dafür entwickelte industrielle Systemlösung soll ab 2018 einsatzbereit sein, sagte Projektkoordinator Dirk Lindenau am Dienstag in Kiel.

Dem bisher aus zehn Unternehmen bestehenden Netzwerk zufolge sind insgesamt 192 Länder betroffen, besonders stark asiatische Staaten wie China, Indonesien, die Philippinen und Vietnam. Das Problem bestehe auch für Deutschland. Allerdings fielen hier in Nord- und Ostsee jährlich „nur“ 20.000 Tonnen Plastikmüll an.

Dirk Lindenau hofft auf eine Beteiligung deutscher Reeder, die unter der geringen Auslastung vieler Schifffahrtskapazitäten leiden. Statt Schiffe zu verschrotten, könnten diese umgebaut werden. Die Erträge aus der vorgesehenen Verwertung des Plastikmülls sollen zur Kostendeckung beitragen. Darüber hinaus sei die Finanzierung eine „Gemeinschaftsaufgabe der Welt“, so Lindenau. Mit dem jeweiligen Partnerland soll ein Entsorgungsvertrag abgeschlossen werden.