Berlin . Mehr als 4000 Patienten in Deutschland wurden nachweislich falsch behandelt. Doch die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher liegen.

Ein Mann klagt über Schulterschmerzen und Schweißausbrüche. Sein Arzt diagnostiziert Rückenprobleme und verschreibt ihm Ruhe. Doch in Wirklichkeit hatte er einen Herzinfarkt.

Bei einer routinemäßigen Darmspiegelung wird die Gefäßwand verletzt und dadurch die Milz getroffen. Von den Medizinern unbemerkt folgt eine Blutung, die zu massivem Blutverlust führt.

Bei einer Operation vergessen die Mediziner einen Tupfer in der Wunde. Das Gewebe entzündet sich an der Kompresse. Der Patient erleidet eine Blutvergiftung, die er fast mit dem Leben bezahlen muss.

Dies sind drei von vielen Fällen, in denen Patienten Opfer durch Behandlungsfehler wurden und zusätzliche Schmerzen erleiden mussten. Im vergangenen Jahr meldeten 14.828 Patienten einen Verdacht auf Falschbehandlung beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) an. In 4064 Fällen – also jedem vierten Fall – wurde ein Behandlungsfehler durch Gutachter tatsächlich bestätigt. Im Jahr zuvor waren es noch 268 Fälle weniger.

Mit der Einführung des Patientenrechtegesetzes vor drei Jahren stieg die Zahl der Vorwürfe von Falschbehandlungen kräftig an. Seither haben Kassenpatienten das Recht, dass ihre Krankenkasse sie bei der Aufklärung eines Verdachts auf einen Behandlungsfehler unterstützt – und zwar unvoreingenommen, interessensneutral und kostenfrei.

Probleme werden noch nicht systematisch erfasst

Doch auch die aktuelle Zahl erfasst keineswegs die Summe aller Falschbehandlungen. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. „Obwohl wir in Deutschland die meisten Daten zu Fehlern registrieren, handelt es sich hierbei nur um die Spitze eines Eisbergs“, sagte Stefan Gronemeyer, leitender Arzt und stellvertretender Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (MDS). „Die tatsächliche Höhe der Behandlungsfehler ist unklar. Viele Fehler werden nicht registriert oder gar nicht erkannt.“

Der Grund für die unsichere Datenlage liegt darin, dass in Deutschland Ärztefehler bislang noch nicht systematisch erfasst werden, kritisiert Gronemeyer und fordert: „Wir brauchen eine Meldepflicht für Behandlungsfehler für mehr Patientensicherheit.“ Dabei könnte Deutschland von anderen europäischen Ländern wie Großbritannien lernen, in denen ernsthafte Fälle von Ärzten gemeldet werden müssen und amtlich erfasst werden. Oder von den USA, wo alle Fälle registriert werden, für die Entschädigungen bezahlt werden.

Auch Deutschland brauche einen offenen Umgang mit Fehlern, so Gronemeyer. Doch noch sei hierzulande „die Sicherheitskultur wegen der ungenügenden Transparenz über auftretende Behandlungsfehler in Kliniken und Arztpraxen unterentwickelt“. Egal ob es sich um übersehene Oberarmbrüche oder gefährliche Wundinfektionen handelt: „Nur wenn die Schadensfälle sorgfältig erfasst und analysiert werden, kann man aus den Fehlern lernen und damit andere Patienten schützen“, sagte Gronemeyer. Genauso wie Arbeits- und Verkehrsunfälle erfasst würden, sollte dies auch bei Ärztefehlern geschehen. Nur so könnten Maßnahmen zur Fehlervermeidung entwickelt werden.

Die Fehler, die Ärzten unterlaufen, sind sehr vielfältig. Gut die Hälfte aller registrierten falschen Behandlungen erfolgt durch Unterlassen von Hilfe und zu spätem Einschreiten. 49 Prozent der Fehler entstehen wiederum durch falsches Handeln, wie eine Auswertung der vom MDS untersuchten Fälle ergab. So wurde zwar in 38 Prozent der Fälle eine Maßnahme ergriffen, doch wurde diese falsch umgesetzt.

Zwei Drittel aller Vorwürfe betreffen Krankenhäuser

„In zwei Dritteln aller Fälle erlitten die Patienten glücklicherweise nur vorübergehende Schäden“, berichtete Max Skorning, Leiter der Patientensicherheit des MDS. Dennoch bedeutete dies für 2642 Patienten längere Krankenhausaufenthalte. 29 Prozent der Opfer erlitten Dauerschäden. Bei 125 Patienten – und damit vier Prozent der Fälle – führte der Fehler sogar zum Tod.

Regelmäßig kommt es zu folgenschweren Fehlern, die eigentlich vermeidbar wären. Dazu gehören vergessene Nadeln oder OP-Bestecke im Körper bei Operationen, die durch falsche Zählkontrollen übersehen werden. Oder das Missachten von Allergien bei der Verordnung von Medikamenten, das Verwechseln von Körperteilen bei Operationen oder das Wundliegen von Patienten. „Hier ist ein wiederkehrendes menschliches Versagen nicht ausreichend abgesichert“, meint Skorning.

Bei Keimen ist der Nachweis schwierig

Zwei Drittel aller Vorwürfe betreffen Behandlungen in Krankenhäusern oder stationären Einrichtungen. Ein Drittel beklagt sich über niedergelassene Ärzte. Ein Grund für diese Verteilung liege darin, dass die meisten Beschwerden auf Operationen folgen. So betreffen die meisten Vorwürfe Falschbehandlungen in der Orthopädie und Unfallchirurgie, in der Allgemeinmedizin, Zahnmedizin, Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie falsche Pflege. Die häufigsten Fehler wurden bei Zahnkaries, nach Knie- und Hüftgelenksoperationen, Oberschenkelbrüchen oder Rückenschmerzen gemacht.

Dass viele Vorwürfe auf Fehlbehandlung nicht von Gutachtern bestätigt werden, liegt auch daran, dass die Patienten nachweisen müssen, dass durch den Fehler ihr Schaden entstanden ist. So werden kaum Schäden durch mangelnde Hygiene angezeigt, obwohl Tausende Krankenhauspatienten jedes Jahr an Multiresistenten Keimen erkranken, sagte Skorning: „Es ist einfach fast unmöglich gezielt nachzuweisen, dass mangelnde Hygiene in Krankenhäusern zu der Infektion führte.“