Berlin. Immer mehr Menschen zieht es in Großstädte. Probleme bei der Flüchtlingsunterbringung zeigen: So kann es nicht mehr lange weitergehen.

Bis zur Mitte des Jahrhunderts werden drei von vier Menschen in Städten leben. 6,5 Milliarden Menschen sind das dann, die mit Wohnungen und Jobs versorgt werden müssen, mit Nahrung, Wasser und Energie. Wissenschaftler geben dem Menschen einen neuen Namen: „hypermobiles Individuum“. Dieses Individuum sucht das Glück, eine neue Arbeit. Für die Forscher hat nun das begonnen, was sie den „Umzug der Menschheit“ nennen. So lautet auch der Titel des Gutachtens, in dem der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU) die Bundesregierung warnt: Das Wachstum der Städte sei so ungeheuer, dass es dringend in neue Bahnen gelenkt werden müsse.

Es ist eines der beeindruckendsten Beispiele einer rasanten Entwicklung: Allein in China wurde innerhalb von nur drei Jahren, von 2008 bis 2010, mehr Zement verbaut als in den Vereinigten Staaten von Amerika im gesamten 20. Jahrhundert. Wohnungen werden aus dem Boden gestampft, ganze Stadtviertel neu gebaut. 90 Prozent des erwarteten Städtewachstums sollen vor allem in Asien und Afrika erfolgen, sagen die Wissenschaftler voraus.

Problematische Flüchtlingsunterbringung als Symbol für Wohnungsmangel

Diese Wucht könnten selbst Städte reicher Nationen kaum auffangen, was sich schon in diesen Tagen in viel kleinerer Dimension bei der Unterbringung von Flüchtlingen zeige. In Deutschland suchte im vergangenen Jahr gut eine Million Menschen Asyl. Schon da habe sich gezeigt, „wie schwer es wohlhabenden Staaten fällt, raschen Zuzug in ihre Städte zu bewältigen“. Wie lässt sich Wohnraum schaffen? Sozial verträglich und umweltfreundlich? Das seien die großen Fragen, vor denen Deutschland stehe.

Den Regierungen blieben nur noch dreieinhalb Jahrzehnte, um die Städte so umzubauen, dass die Bewohner nicht in unzumutbare Wohn- und Lebensverhältnisse geraten, warnt Dirk Messner, WBGU-Chef und Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Die Forscher empfehlen, jedem Stadtbewohner weltweit bis zum Jahr 2030 Zugang zu „bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie“ zu sichern und bis spätestens 2070 alle CO2-Emissionsquellen, etwa im Verkehr und der Industrie, durch Alternativen zu ersetzen. Sie werben dafür, so zu planen, dass kurze Wege zwischen Stadt und Arbeit garantiert sind, dass Radfahrer und Fußgänger genug Platz haben. Dazu müssten Städte nun „im Zeitraffer“ neu erfunden werden, so die Regierungsberater. Klimaforscher und WBGU-Vorsitzender Hans Joachim Schellnhuber fordert zum Umdenken auf: Baue die Menschheit die neuen Städte wie bisher mit Zement und Stahl, sagt er, sei der Kampf gegen den Klimawandel nicht zu schaffen. Allein die Herstellung der Baumaterialien würde zu viel Energie kosten. Die Alternativen seien Holz, Lehm oder smarte Materialien wie Carbon.

Das Ruhrgebiet als Vorbild für künftige Ballungszentren

Die Vision der insgesamt neun Experten im WBGU: Damit die Aufnahme der neuen Stadtbewohner besser bewältig werden kann, sollen menschliche Siedlungen künftig aus mehreren Zentren bestehen. Keine Megastädte, mit einem neuen Vorort nach dem anderen, sondern Regionen mit vielen Mittelzentren, wie sie es in Europa seit jeher gibt. Regionen, die der Bucht von San Francisco ähneln. Oder dem Ruhrgebiet, Ballungsraum mit über fünf Millionen Einwohnern. Das heißt: Es sollen Verbünde mittelgroßer Städte entstehen, die leichter zu regieren sind. Für sie müssten Lebensmittel, Energie und Wasser nicht von weit her herangekarrt werden. So habe Nordrhein-Westfalen, sagt Messner, schon in den 70er-Jahren Universitäten in kleinere Zentren gebracht, etwa nach Paderborn oder Bielefeld. Das steigere die Attraktivität. Und das nördliche Ruhrgebiet, so Messner, sei ein modernes, international vernetztes Zentrum.

Vor allem aber schlagen die WBGUler vor, dass dauerklamme Kommunen mehr Finanzspielräume bekommen. In Ländern wie Kenia würden bisher nur 1,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben von lokalen Akteuren investiert. In Dänemark läge dieser Anteil bei 62 Prozent. Anders ausgedrückt: Bürgermeister der neuen Städte sollten mehr zu sagen haben.