Berlin. Die Katastrophe von Tschernobyl 1986 war der bisher schwerste Atomunfall. Manches bleibt ungeklärt, manches hat Auswirkungen bis heute.
Am 26. April 1986 gerät ein Versuch im ukrainischen Kraftwerk in Tschernobyl außer Kontrolle. Der Reaktorkern wird zerstört, das Kraftwerksgebäude schwer beschädigt. Eine extrem große Menge Radioaktivität wird freigesetzt – mit verheerenden Folgen. Der Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, war eingetreten.
Doch wie kam es vor 30 Jahren zu dieser Katastrophe? Wie reagierte die Politik? Was waren die Folgen für die Bevölkerung in ganz Europa? Welche Auswirkungen sind bis heute spürbar? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie kam es zum „Größten Anzunehmenden Unfall“ (GAU)?
Die Katastrophe beginnt mit einem Versuch. Am 25. April soll getestet werden, ob bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine ausreichend Strom produzieren kann. Dazu werden das Notkühlsystem und weitere Sicherheitssysteme ausgeschaltet. Das Experiment muss unterbrochen werden, weil aus der Hauptstadt Kiew mehr Strom verlangt wird. Entgegen der Sicherheitsbestimmungen bleibt das Notkühlsystem ausgeschaltet.
Am Abend wird der Versuch fortgesetzt. Die Mannschaft beginnt, Reaktor Nummer vier testweise herunterzufahren. Die Leistung sackt ab, der Reaktor wird instabil. Der Grund dafür ist bis heute ungeklärt. Anstatt den Reaktor abzuschalten, will die Bedienmannschaft die Leistung wieder erhöhen. Es kommt zu einem plötzlichen Anstieg auf das 100-fache der Nennleistung. Die Temperatur steigt, das Kühlmittel verdampft. Das Personal drückt den Notfallknopf, um die fatale Kettenreaktion zu unterbrechen – vergeblich.
Die Brennelemente reißen und reagieren mit dem Wasser. Der Reaktor ist außer Kontrolle. Es kommt zum „Größten Anzunehmenden Unfall“ (GAU). Zwei Explosionen zerstören den Meiler, vermutlich ausgelöst durch riesige Mengen Wasserstoff. Durch die Detonationen reißt das Dach auf. Radioaktive Partikel steigen auf und verbreiten sich über Europa.
Tschernobyl: Super-GAU vor 30 Jahren
Wie wurde vor Ort auf die Katastrophe reagiert?
Nur wenige Minuten nach der Explosion treffen die ersten Feuerwehrleute ein. Sie tragen keine Schutzkleidung. Viele überleben die Katastrophe nur um wenige Wochen. In den Tagen danach werfen Soldaten und andere Helfer aus Hubschraubern und Flugzeugen Chemikalien, Blei, Sand und Lehm ab, um die Brände am Reaktor unter Kontrolle zu bekommen. Doch erst als der Reaktor mit Stickstoff gekühlt werden kann, gelingt es nach zehn Tagen den Brand unter Kontrolle zu bringen. Ein sogenannter Sarkophag aus Beton wird um den Reaktor gebaut.
Insgesamt helfen etwa 600.000 sogenannte Liquidatoren, zunächst vor allem Mitarbeiter des Kraftwerks und Feuerwehrleute, die Folgen der Katastrophe zu mindern. Die Stadt Prypjat mit 50.000 Einwohnern unmittelbar am AKW-Gelände wird geräumt. Bis heute ist sie eine Geisterstadt. Bis zum 4. Mai evakuieren die Behörden alle Orte in einer 30-Kilometer-Sperrzone. Insgesamt müssen 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen.
Wie viele Menschen starben?
Wie viele Menschen insgesamt an den Folgen von Tschernobyl gestorben sind, ist bis heute umstritten. Experten gehen von einigen Zehntausend Todesfällen aus, die auf das Unglück zurückführbar sind.
134 der Arbeiter wurden so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 von ihnen starben innerhalb von kurzer Zeit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass insgesamt etwa 2200 Arbeiter vorzeitig an Strahlenschäden sterben werden.
Seit 1990 wurden mehr als 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemeldet – eine weit höhere Zahl, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Weil sich Schilddrüsenkrebs sehr gut behandeln lässt, starb nur etwa ein Prozent der Betroffenen an den Folgen der Krankheit.
Wie reagierte die Führung der Sowjetunion?
Tagelang verschweigt die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow das Unglück. Erst nach zwei Tagen berichtet die sowjetische Nachrichtenagentur Tass erstmals, dass sich im Atomkraftwerk Tschernobyl ein Unfall ereignet habe. Die von Gorbatschow verkündete neue Offenheit („Glasnost“) steckt noch in den Kinderschuhen.
Erst gut zwei Wochen nach der Katastrophe informiert der Kremlchef persönlich in einer Fernsehansprache die Öffentlichkeit. Die Parteifunktionäre in Moskau machen die grobe Fahrlässigkeit des Bedienungspersonal für das Unglück verantwortlich. Im September wird Reaktorblock eins in Tschernobyl wieder in Betrieb genommen, zwei weitere folgen.
Die Katastrophe von Tschernobyl hat auch eine politische Seite: Sie läutet das Ende der bis dahin als stabil geltenden Sowjetunion ein.
Was waren die Folgen für Deutschland?
Zuerst treibt die radioaktive Wolke nach Norden. An einem Atomkraftwerk in Schweden wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Doch der Meiler läuft ohne Störung. Auch in Finnland, Polen und in der DDR steigen die Werte.
Politiker in Deutschland betonen damals unisono: keine Gefahr. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) sagt in der Tagesschau drei Tage nach dem Gau, eine Gefährdung sei „absolut auszuschließen“. Dann dreht der Wind. Plötzlich gibt es erhöhte Radioaktivität auch in Westdeutschland. Hausbesitzer kontrollieren mit Geigerzählern ihre Gärten, die Messgeräte sind ausverkauft. Wenn es regnet, laufen die Menschen in Panik wie um ihr Leben – wegen des Fallouts, den niemand recht einschätzen kann.
Bundesweit am schlimmsten trifft es Bayern, dort wiederum Gegenden, über denen zufällig an diesen ersten Maitagen 1986 schwere Gewitter niedergehen: Landstriche in Schwaben, im Bayerischen Wald und im Süden Oberbayerns. Auch 30 Jahre nach der Katastrophe werden dort manchmal bei Wild und Pilzen noch Werte um ein Vielfaches über dem Grenzwert gemessen.
Wie hat sich die Nutzung von Atomenergie seit Tschernobyl verändert?
Als Reaktion richten selbst konservative Regierungen Umweltministerien ein. Kernkraftkritiker erhalten Auftrieb. In Deutschland einigen sich die erste rot-grüne Bundesregierung und die Industrie im Jahr 2000 auf einen Atomausstieg. Schwarz-Gelb unter Kanzlerin Angela Merkel nimmt ihn 2010 zurück, um ihn 2011 unter dem Schock von Fukushima wieder zu beschließen, als stufenweisen Atomausstieg bis 2022.
Wegen Tschernobyl legt Italien 1987 seine Kernkraftwerke still, Polen bricht 1989 den Einstieg in die Atomkraft ab. Andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA halten an der Kernkraft fest. Indien betreibt schon viele Reaktoren, China will in großem Stil in die Kernkraft einsteigen. Japan steigt trotz Fukushima nicht ganz aus.
Die Atomkraftwerke in Deutschlands Nachbarländern sind heute teilweise so alt, dass sie die Sicherheitsstandards längst nicht mehr erfüllen würden. Erst kürzlich hat Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) Belgien aufgefordert, zwei Atomreaktorblöcke in der Nähe von Aachen aus Sicherheitsgründen vom Netz zu nehmen – bisher ohne Erfolg.
Wie lange lief das Atomkraftwerk Tschernobyl noch?
Als letzter Reaktorblock geht Nummer drei Ende 2000 vom Netz. Für die Stilllegung von Tschernobyl bekommt die ukrainische Regierung knapp 1,6 Milliarden Euro von der EU.
Seit 2012 wird eine Stahlhülle über dem mehrfach notdürftig sanierten Sarkophag gebaut. Die Kosten werden auf gut 2,1 Milliarden Euro geschätzt. Die 108 Meter hohe Hülle soll im November 2017 fertig sein und die Umgebung 100 Jahre lang vor Strahlung schützen. (dpa/bnb)