Berlin. Der Auslöser war ein Video von „extra 3“, der Höhepunkt die „Schmähkritik“ von Jan Böhmermann an Erdogan. Eine Chronik des Falls.

Erst kam „extra 3“ und ein Satire-Video namens „Erdowie, Erdowo, Erdogan“. Dann zog Jan Böhmermann mit einem Gedicht namens „Schmähkritik“ über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach – und die politische Affäre nahm ihren Lauf. So lief der Fall ab:

17.März 2016: In der Fernsehsendung „extra 3“ wird das Video „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ ausgestrahlt. Der Satire-Beitrag kritisiert die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayip Erdogan – die eingeschränkte Pressefreiheit, der Umgang mit Kritikern und die autokratische Machtpolitik. Im Text des Liedes, der auf die Melodie von Nenas „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ gesungen wird, heißt es zum Beispiel: „Er lebt auf großem Fuß, der Boss vom Bosporus.“ Dazu werden Bilder von Erdogans neuem Palast gezeigt, der wegen seiner Größe und Kosten umstritten ist. Weiter lautet der Text: „Ein Journalist, der irgendwas verfasst, was Erdogan nicht passt, ist morgen schon im Knast.“ Die Sendung, die sonst regelmäßig im Norddeutschen Rundfunk läuft, wurde an diesem Abend in der ARD gezeigt.

29. März 2016: Wie an diesem Tag bekannt wird, bestellte das türkische Außenministerium in Ankara den deutschen Botschafter ein. Wie „Spiegel Online“ berichtete, musste sich der Diplomat Martin Erdmann am 22. März in einem längeren Gespräch für den Satire-Beitrag rechtfertigen. Nach Angaben aus türkischen Diplomatenkreisen wurde in dem Gespräch ein Stopp der weiteren Ausstrahlung des Videos gefordert. Erdmann wies das zurück. Politische Satire sei in Deutschland von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt. Deshalb gebe es „weder eine Notwendigkeit noch die Möglichkeit für ein Handeln der Bundesregierung“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.

30. März 2016: Die Macher von „extra 3“ legen nach. Moderator Christian Ehring macht sich in der Sendung über den Umgang der Bundesregierung mit der türkischen Kritik an der Erdogan-Satire lustig: „Das ist eigentlich ganz einfach in Deutschland: Wenn Sie Kritik hören wollen, schauen Sie ‘extra 3’. Wenn Sie keine Kritik hören wollen, sprechen Sie mit der Bundeskanzlerin.“ Der Wirbel um das Video bringt der Sendung eine Rekordquote: 880.000 Zuschauer schalten ein. Die Redaktion bedankt sich gewohnt satirisch beim türkischen Präsidenten für die PR-Unterstützung – und kürt ihn zum Mitarbeiter des Monats. Den Video-Beitrag „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ gibt es nun auch mit türkischen Untertiteln auf YouTube.

31. März 2016: In seiner Sendung „Neo Magazin Royale“ geht Jan Böhmermann auf den Eklat rund um die Einbestellung des deutschen Botschafters in Ankara ein. Er erklärt den Unterschied von erlaubter Satire und auch in Deutschland verbotener Schmähkritik. Dazu liest er ein Gedicht mit dem Titel „Schmähkritik“ vor – mit dem Hinweis, dass man das so nicht machen dürfe. Das Gedicht richtet sich an den türkischen Präsidenten Erdogan und geht ziemlich unter die Gürtellinie. Darin heißt es etwa: „Am liebsten mag er Ziegen ficken, und Minderheiten unterdrücken“ oder auch „Ja, Erdogan ist voll und ganz, ein Präsident mit kleinem Schwanz.“

01. April 2016: Das ZDF entfernt das Gedicht aus der ZDF-Mediathek und teilt dazu mit: „Die Parodie im „Neo Magazin Royale“ vom 31. März zum Umgang des türkischen Ministerpräsidenten mit Satire entspricht nicht den Ansprüchen, die das ZDF an die Qualität von Satiresendungen stellt.“ Auch im YouTube-Kanal von „Neo Magazin Royale“ ist der Beitrag nicht mehr abrufbar.

03. April 2015: Jan Böhmermann wendet sich nach „Spiegel“-Informationen an Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU). In einer privaten Twitter-Nachricht schreibt der Moderator laut des Berichts: „Ich möchte gerne in einem Land leben, in dem das Erkunden der Grenze der Satire erlaubt, gewünscht und Gegenstand einer zivilgesellschaftlichen Debatte sein kann.“ Altmaier antwortet, er werde sich melden, sobald er am Abend in Berlin sei, doch lässt nicht wieder von sich hören.

In einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu kritisiert Kanzlerin Angela Merkel das Schmähgedicht als „bewusst verletzend“. Wie Regierungssprecher Steffen Seibert sagt, habe Merkel auf die Konsequenzen verwiesen, die das ZDF bereits gezogen habe. Ferner habe Merkel den hohen Wert bekräftigt, den die Bundesregierung der Presse- und Meinungsfreiheit beimesse. Diese sei aber nicht schrankenlos. Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, soll das Auswärtige Amt (AA) noch vor dem Telefonat eine interne juristische Prüfung in Auftrag gegeben haben. Rechtsexperten des AA warnen davor, dass gegen Böhmermann wegen der schmähenden Worte gegen Erdogan ein Strafverfahren wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts eingeleitet werden könne.

06. April 2016: Die Mainzer Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beleidigung von Organen oder Vertretern ausländischer Staaten ein (Paragraf 103 des Strafgesetzbuchs). Das teilt die Leitende Oberstaatsanwältin Andrea Keller mit und bestätigte damit einen Bericht von „Spiegel“. Auch 20 Strafanzeigen von Privatpersonen seien eingegangen. Die Staatsanwaltschaft will das Bundesjustizministerium unterrichten, „um zu klären, ob seitens der Türkei bzw. ihres Staatsoberhauptes ein Strafverlangen gestellt wird“.

07. April 2016: Die Staatsanwaltschaft Mainz ermittelt auch gegen ZDF-Verantwortliche, gegen die ebenfalls Anzeigen eingegangen sind. Namen werden nicht bekannt.

08. April 2016: Jan Böhmermann sagt seine Teilnahme an der Grimme-Preis-Verleihung ab. Auf Facebook schreibt der Moderator: „Ich fühle mich erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe. Mein Team von der Bildundtonfabrik und ich bitten um Verständnis, dass wir heute Abend nicht in Marl feiern können.“ Böhmermann bekam in Abwesenheit den Preis für seine Satire rund um den Mittelfinger des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis verliehen.

10. April 2016: Die türkische Regierung fordert in einer Verbalnote an das Auswärtige Amt die Strafverfolgung von Jan Böhmermann. Der türkische Botschafter in Deutschland ließ die Forderung dem Auswärtigen Amt zukommen. Die Bundesregierung will den Inhalt der Note prüfen und zügig entscheiden, wie mit dem türkischen Verlangen nach Strafverfolgung umzugehen sei.

Derweil schlägt Böhmermann eine Einladung zur ARD-Talkshow „Anne Will“ aus. Auch seine Sendung „Sanft & Sorgfältig“ mit Moderator Olli Schulz auf Radio Eins lässt er ausfallen.

11. April 2016: Regierungssprecher Steffen Seibert verkündet, dass die Bundesregierung den förmlichen Wunsch der Türkei nach Strafverfolgung von Jan Böhmermann prüfen wird. Dies solle ein paar Tage, aber nicht Wochen dauern, sagte er in der Bundespressekonferenz. Erste Gespräche dazu gibt es auf Ebene der fachlich Zuständigen im Auswärtigen Amt, Justizministerium und Kanzleramt.

12. April 2016: Jan Böhmermann sagt die nächste Sendung seines „Neo Magazin Royale“ ab. Grund sei die große Berichterstattung und der damit verbundene Fokus auf die Sendung und den Moderator. Das bestätigt ein ZDF-Sprecher in Mainz: „Wir respektieren die Entscheidung der Produktionsfirma und von Jan Böhmermann und haben Verständnis für deren Begründung.“

Es wir bekannt, dass Böhmermann unter Polizeischutz steht. „Ein Streifenwagen steht vor der Tür“, sagte ein Polizeisprecher in Köln. Man stehe auch mit anderen Sicherheitsbehörden im Kontakt. Zuvor habe es eine Beurteilung der Gefährdungslage gegeben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat auch persönlich Anzeige gegen Böhmermann gestellt. Sein Anwalt, Hubertus von Sprenger, will alle Rechtsmittel auszuschöpfen – bis zur letzten Instanz. „Wenn ich das Mandat annehme, ziehe ich das auch durch“, sagte von Sprenger im Interview mit „heute journal“-Moderator Claus Kleber im ZDF.

13. April 2016: Kai Diekmann verwirrt mit einem angeblichen Interview mit Jan Böhmermann. „Ich sag’ es mal in den Worten des falschen Böhmermann: „Das ganze Leben ist Satire. Man muss sie nur erkennen.“, schrieb der Herausgeber der „Bild“-Zeitung auf Twitter. Das angebliche Gespräch zwischen Böhmermann und Diekmann war auf Facebook mit den Worten übertitelt: „Jan Böhmermann bricht sein Schweigen! Das große Interview zum Erdogan-Eklat!“

14. April 2016: Jan Böhmermann will im Streit um sein Erdogan-Gedicht keine Unterlassungserklärung abgeben. Sein Anwalt Christian Schertz bestätigt einen entsprechenden Bericht der „Süddeutschen Zeitung“.

ZDF-Redakteure stellen sich auf Böhmermanns Seite und fordern, den Beitrag wieder in die Mediathek zu stellen: „Wir würden es begrüßen, wenn die „Schmähkritik“ vom Giftschrank wieder in die Mediathek gestellt wird“, so ein Schreiben des Redakteursausschusses. Das ZDF bleibt aber bei seiner Entscheidung, das umstrittene „Schmähgedicht“ nicht mehr zu verbreiten.

Nach Einschätzung einer vom ZDF beauftragten Kanzlei hat das Schmähgedicht die Grenzen der Strafbarkeit allerdings nicht überschritten. Der Beitrag über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sei rechtlich zulässig, so ein Expertengutachten der Kanzlei.

15. April 2016: Die Bundesregierung lässt ein Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten zu. Die Entscheidung ist innerhalb der Bundesregierung allerdings umstritten. So gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen den Koalitionspartnern Union und SPD. Die SPD-Ressorts stimmten nach gegen die Ermächtigung. „Wegen der Stimmengleichheit entschied die Stimme der Bundeskanzlerin.“ Steinmeier räumte ein, es gebe „gute Gründe“ für beide Alternativen einer Entscheidung.

Als Konsequenz aus dem Fall Böhmermann soll der Beleidigungsparagraf 103 des Strafgesetzbuches abgeschafft werden.

Das ZDF wertet die Zustimmung der Bundesregierung für ein gesondertes Strafverfahren gegen Jan Böhmermann als „politische Entscheidung“. ZDF-Intendant Thomas Bellut sichert Böhmermann die volle rechtliche Unterstützung des Senders zu: „Wir gehen mit ihm durch alle Instanzen.“ Böhmermanns Rechtsanwalt Christian Schertz sagt zu der Entscheidung der Regierung: „Diese Verfolgungsermächtigung war völlig überflüssig und ohne Not.“ So habe Erdogan bereits als Privatperson einen Strafantrag gestellt, die Staatsanwaltschaft müsse daher die Frage der Beleidigung ohnehin prüfen. Die Erteilung der Verfolgungsermächtigung sei „rechtlich wie rechtspolitisch höchst bedenklich“.

16. April 2016: Böhmermann nimmt eine vierwöchige Auszeit. Öffentlichkeit und Internet sollten sich „mal wieder auf die wirklich wichtigen Dinge wie die Flüchtlingskrise, Katzenvideos oder das Liebesleben von Sophia Thomalla konzentrieren“, schreibt er bei Facebook. „Denn es gibt möglicherweise bedeutsamere Themen, als die Diskussion um ein in einer Satire-Sendung vorgetragenes Gedicht.“ (mit dpa)