Washington. Paul Kalanithi hat Lungenkrebs. Er weiß, er wird sterben – und beginnt zu schreiben. Den Erfolg seines Buchs erlebt er nicht mehr.

Die Lunge – übersät mit Tumoren. Die Wirbelsäule – verformt. Ein ganzer Lappen der Leber – quasi ausgelöscht. Für Zweifel ist kein Millimeter Platz, als Paul Kalanithi im Mai 2013 die Aufnahmen aus dem Computertomografen auswertet. Dieser Krebs hat auf ganzer Breite gestreut. Der aufstrebende Neurochirurg aus Arizona tut nun das, was er mit Hunderten ähnlich desaströsen CT-Bildern getan hat. Er sucht routiniert nach Andockstellen für eine Therapie, um dem Patienten noch etwas Zeit zu kaufen. Vergebens. Mit einer Besonderheit. Der todkranke Patient ist er selbst. Mit diesem emotionalen Vorschlaghammer steigt ein Buch ein, das die Bestsellerlisten in Amerika anführt, Zehntausende Leser zu Tränen rührt und nun in deutscher Übersetzung erscheint.

„When Breath Becomes Air“, ab 11. April unter dem Titel „Bevor ich jetzt gehe“ (Albrecht Knaus Verlag, 19,99 Euro) bei uns im Handel, erzählt ohne Larmoyanz oder Rührseligkeit aus der Ich-Perspektive von einem Leben, das von einer Minute auf die andere aus der Bahn geworfen wird. So brutal, dass es einem die Kehle zuschnürt.

„Meine sorgfältig geplante und hart erarbeitete Zukunft existierte nicht mehr“, erinnert Dr. Kalanithi den Moment der Wahrheit und liefert die Prognose gleich mit, „der Tod, mir so vertraut in meiner Arbeit, wird mir einen persönlichen Besuch abstatten.“ Worte eines 36-Jährigen. 22 Monate später, im März 2015, ist er tot.

Ein Kind trotz Krankheit?

Kalanithi schreibt, bis ihm die Chemotherapie die Fingerkuppen zerfrisst. Seine Ehefrau Lucy redigiert die letzten Kapitel. Und bringt das Buch zur Welt. „Eine Sensation“, urteilen die Kritiker. Kalanithi ist eine unverwechselbare Mischung aus Erinnerung, Analyse und Trauerarbeit zu Lebzeiten gelungen. Wer diese kluge und zutiefst humane Meditation über die letzten Dinge in die Hand nimmt, legt sie so schnell nicht wieder weg.

Der posthume Erfolg des Kindes indischer Einwanderer wäre ohne seine Mutter nie denkbar gewesen. Sie war es, die ihre Söhne daheim unterrichtete und Paul an Gedichte und große Autoren heranführte. So nah, dass ihr Sprössling vor dem Summa-cum-laude-Abschluss als Arzt in Yale erst zwei Exzellenzabschlüsse in Literatur und Philosophie hinlegte. „Er sah aus wie ein Vollmond, der fast den Horizont ausfüllt“, schrieb Kalanithi über die Entdeckung eines neuen Tumors in seiner Lunge.

Auch ein Abschied an seine kleine Tochter

Zentnerschwer spürt man beim Lesen die Last, wenn der Sohn eines Kardiologen das Kleingedruckte eines Todgeweihten durchbuchstabiert. Soll er einen Top-Job in Stanford antreten – nicht wissend, ob ihm Wochen, Monate oder vielleicht ein Jahr bleiben? Eher nicht. Und dann die schwerste aller Fragen: Soll ein Mann, der sterben wird, neues Leben zeugen? Um es vorwegzunehmen: Die Worte, die Paul Kalanithi an seine kleine Tochter Cady richtet, gehören zum Bewegendsten, was in jüngster Zeit zwischen zwei Buchdeckeln gelandet ist. Man fühlt sich erinnert an Joan Didions „Das weiße Album“, in dem es so unübertroffen heißt: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“

Paul Kalanithi hat bis zuletzt vorgelebt, dass man dem Tiefpunkt der Schöpfung Momente der Unabhängigkeit abtrotzen kann. In preußischer Pflichterfüllung vollzieht er, selbst schon mit einem Bein im Grab, seine letzte Operation. Ein älterer Mann, dem gequetschte Nervenenden am Rücken rasende Schmerzen bereiteten, wird geheilt. Danach legt der Chirurg für immer das Skalpell beiseite, räumt seine Sachen zusammen und fährt zu seiner Familie. Kurze Zeit danach ist es vorbei. Paul Kalanithi hat den Tod nicht bezwingen können. Wie würdevoll er seinen Kampf führte, macht ihn trotzdem unsterblich.

Erscheinungstermin: „Bevor ich jetzt gehe“ erscheint am 11. April 2016 im Albrecht Knaus Verlag, 19,99 Euro.