Flensburg. Er hatte starke Depressionen, wie Andreas Lubitz am Steuer des Germanwings-Jets: Ein Pilot erzählt, dass er kein Cockpit mehr betritt.
Ein griechisches Restaurant an einer dunklen Flensburger Ausfallstraße. Draußen toben Orkanböen, drinnen weht der Geruch von Suflaki und Gyros durch den Gastraum. Man erwartet keine Gourmetküche bei einem Griechen wie diesem. Man erwartet vernünftige Qualität zum guten Preis, reichlich Ouzo aufs Haus und vor allem: Satt soll es machen.
Mein Gegenüber bestellt die Fitnesspfanne mit Apfelschorle. Ein großer, sportlicher Typ mit blauem Strickpullover, höchstens Mitte 30. Einen wie ihn sehen Schwiegermütter gerne auf ihrem Sofa sitzen: freundlich-gewinnendes Lachen, höflich, beruflich erfolgreich. Dass es tief in ihm ganz anders aussieht, würde keine Schwiegermutter und auch niemand sonst im griechischen Gastraum vermuten.
Marcel Kellerhoff (Name von der Redaktion geändert) ist Pilot und leidet unter heftigen Depressionen. Genau wie sein Kollege Andreas Lubitz, der am 24. März 2015 die Germanwings-Maschine in den französischen Alpen zerschellen ließ. Absichtlich. 150 Menschen kamen dabei ums Leben. Kellerhoff will erzählen, wie er den Tag des Unglücks erlebte, was damals an Bord des Airbus passiert sein muss. Und er will darüber sprechen, wie mit seiner psychischen Krankheit sein eigener Pilotentraum plötzlich zerplatzte. Eine emotionale Rückschau und der Blick in eine Zukunft voller Fragezeichen.
Verriegelte Tür „unglaublich perfide“
Knapp ein Jahr nach der Katastrophe erinnert sich Marcel Kellerhoff noch genau an den Tag des Unglücks. „Ich war in München unterwegs und habe Freunde besucht. Dass es einen Schaden am Flieger gegeben haben könnte, hielt ich von Beginn an für ausgeschlossen. Das Wetter war zu gut, da kannst du normalerweise stundenlang segeln. Und dass beide Triebwerke ausfallen, ist ebenso unwahrscheinlich. Auch bei einem Herzinfarkt fliegt der Autopilot geradeaus weiter und geht nicht in den Sturzflug.“ Dann verdichtete sich nach und nach die Selbstmordtheorie.
„Das erschien mir sofort die schlüssigste Erklärung“, sagt Kellerhoff, „der Pilot kam von der Toilette und hat seinen vierstelligen Code eingegeben. Daraufhin wurden im Cockpit Ton und Kamera aktiviert. Der Co-Pilot sah genau, wer da vor der Tür stand und verriegelte per Knopfdruck ganz bewusst. Deny! Das ist unglaublich perfide. Der Pilot hatte auch mit einer Axt keine Chance, ins Cockpit zu gelangen“, sagt Kellerhoff und nippt an seiner Apfelschorle. „Das Schlimme ist: Die Passagiere haben alles bis zum Aufprall mitbekommen, auch wenn der Vorhang vor dem Cockpit sicher zugezogen war.“
Der Germanwings-Absturz – eine Chronik
Kellerhoff bittet um eine Zigarettenpause, öffnet die Tür zum Restaurant und drückt sich draußen in eine Nische. Vor den Anschlägen vom 11. September, so erzählt er, konnte jeder im Cockpit ein- und ausmarschieren. Ein Erinnerungsfoto mit dem Kapitän? Kein Problem. „Dann kam die Türverriegelung, und ausgerechnet die wurde den Germanwings-Passagieren zum Verhängnis. Solche Maßnahmen nach Unglücken rufen oft neue Probleme hervor. Nicht alles ist immer besonders weitsichtig gedacht.“
Der Traum vom Piloten-Job
Mittlerweile muss ein Besatzungsmitglied ins Cockpit kommen, wenn einer der beiden Piloten dieses verlässt. Kellerhoff glaubt, dass diese neue Vorkehrung den Menschen an Bord von Flug 4U9525 das Leben gerettet hätte. Zu groß wäre die Hemmschwelle für Andreas Lubitz gewesen, auch noch jemanden außer Gefecht setzen zu müssen, um seinen teuflischen Plan in die Tat umzusetzen. Kellerhoff ist überzeugt davon, dass sich Lubitz mit dem Absturz ein Denkmal setzen wollte: „Sonst hätte er sich auch einen kleinen Privatflieger chartern und allein in eine Felswand fliegen können.“
Fitnesspfanne und ein üppiger Grillteller werden serviert. In jeder Sekunde ist zu spüren, dass es Marcel Kellerhoff nicht leicht fällt, über das Unglück und seinen eigenen beruflichen Fall aus quasi 10.000 Metern Höhe zu sprechen. Er wollte immer schon Pilot werden; er investiert 70.000 Euro, um auf einer privaten Flugschule seinen Schein zu machen.
„Es gab keine Garantie auf einen Job. Ich bin volles Risiko gegangen. Meine Eltern haben mich finanziell dabei unterstützt.“ Es klappt. Kellerhoff bekommt 2002 sofort eine Festanstellung bei einer großen Fluglinie. Dann werden weitere 30.000 Euro für eine Lizenz fällig, um einen bestimmten Flugzeugtypen fliegen zu können. 100.000 Euro Investment bei einem anfänglichen Gehalt von 2000 Euro netto, das sich später mehr als verdoppeln sollte.
Mit dem Flugzeug um die Welt
Marcel Kellerhoff stochert zwischen Pilzen, Reis und Putenfleisch herum. Minutenlang fällt kein Wort. Manchmal ist diese Stille unangenehm. Immerhin plärrt griechische Folklore aus dem Lautsprecher und der Wirt kommt vorbei, um uns auf die Schulter zu klopfen und zu fragen, wie es denn schmeckt.
Kellerhoff spricht über seinen ersten eigenverantwortlichen Flug in einer Boeing 737. „Wir flogen von Hamburg nach Rhodos. Ich war nur damit beschäftigt, alle Abläufe korrekt abzuwickeln und habe diesen Moment gar nicht so richtig genießen können. Aber dann der Sichtanflug auf Rhodos, das war ein riesengroßer Spaß“, erinnert er sich und für kurze Zeit ist da wieder diese Begeisterung in seinem Gesicht, wie bei einem Jungen, der seinen ersten Lego-Technik-Kran auspackt. Sichtanflug, das heißt, der Pilot bringt den Vogel bei gutem Wetter eigenverantwortlich herunter und wird nicht, wie bei größeren Flughäfen üblich, durch den Lotsen „herunter gesprochen.“
60 bis 120 Flugdienststunden absolvierte der junge Pilot im Monat, mal ging es nach Mallorca, mal nach Ägypten oder auf die Kanaren. „Alles lief prima, wobei es eine richtige Regelmäßigkeit in meiner Arbeitswoche nie gab. Mal ging es morgens um fünf los, mal mittags um eins“, erzählt Marcel Kellerhoff. Die Zeit am Boden war immer knapp, Fluglinien verdienen mit ihren Fliegern schließlich nur Geld, wenn diese in der Luft sind. „Aber der Stress hat mir nicht viel ausgemacht. Es war schließlich mein Traumberuf. Ich würde gerne noch eine rauchen, okay?“
Die Leere kommt aus dem Nichts
Draußen lässt der Sturm über Flensburg langsam nach. Ein wenig verkrampft zieht Kellerhoff an seiner Zigarette. Zwischendurch klingelt das Handy. Es ist eine Freundin. Einer wie er hat nie Probleme gehabt, Frauen kennenzulernen. Die hübschesten Stewardessen waren ja immer in seiner Nähe. Und dann kommt vor fünf Jahren plötzlich der Tag, an dem bei Marcel Kellerhoff gar nichts mehr geht: Aus dem Nichts macht sich Leere in seinem Kopf breit, wo sonst kein Platz und schon gar keine Zeit dafür war. Dazu dieses Gefühl, sich nutzlos und überflüssig zu fühlen und es einfach nicht mehr zu schaffen. Kellerhoff leidet unter Depression.
„Ich bin zu meinem Hausarzt und ließ mich krank schreiben. Sowohl er als auch mein Flugarzt haben mich gewarnt: Sprechen Sie bloß nicht mit ihrem Arbeitgeber darüber.“ Kellerhoff befolgte diesen Rat. Seit dieser Zeit hat er nie wieder ein Cockpit betreten. Er wurde in seiner Firma zur Karteileiche. Es gibt Tage, da weiß er nicht mal, wie er einen Friseurbesuch oder den Einkauf im Supermarkt überstehen soll. Es gibt auch Stunden, an denen sein Leben absolut keinen Sinn mehr zu machen scheint. Niemand sieht ihm das an. Ihm doch nicht. Keine Augenringe, kein fahler Teint. Fitter und durchtrainierter als Kellerhoff kann man mit 35 kaum aussehen.
„Es ist wie eine Spirale, und je mehr man grübelt, desto schlimmer wird es. Mir konnte bislang keine Therapie helfen, auch keine mit Medikamenten“, sagt Kellerhoff und erzählt von einem wahren Mediziner-Marathon in den vergangenen Jahren. „Jeder hat versucht, sein Fachgebiet auf mich anzuwenden, aber nie hat es gepasst. Das einzige, was ich nach fünf Jahren weiß ist, dass die Ursachen im privaten und nicht im beruflichen Bereich liegen. Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass Deutschland Entwicklungsland ist, was die Behandlung von psychischen Erkrankungen angeht“, sagt er.
„Wenn ich das erzähle, bin ich meinen Job los“
Kurze Zeit später stehen wir wieder vor der Tür und rauchen. Marcel Kellerhoff fürchtet, dass auf seine Berufskollegen durch das Germanwings-Unglück noch mehr Druck ausgeübt wird. Er glaubt, dass ein engeres Kontroll-Korsett und zusätzlicher Druck von Politik und Airlines Piloten mit psychischen Erkrankungen davon abhalten wird, sich ihren Arbeitgebern zu öffnen und das Problem offensiv anzugehen. „Die Leute wissen genau: Wenn ich das jetzt erzähle, bin ich meinen Job los. Das ist genau der falsche Weg, der beschritten wird. Es sollte lieber ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden.“
Wieder im Gastraum erzählt Kellerhoff, dass er sich vom Flugarzt mittlerweile hat dauerhaft fluguntauglich schreiben lassen. Die Alternative wäre gewesen, sich möglicherweise unter Auflagen wieder Flugtauglichkeit attestieren zu lassen. „Es geht mir ja nicht jeden Tag schlecht und es wäre durchaus vorstellbar gewesen. Aber ich sehe einfach keine Perspektive und mir fehlt der Glaube daran, es jemals wieder in die Luft zu schaffen“, sagt er. Ein Schritt, den Andreas Lubitz nicht gegangen ist. Deshalb mussten außer ihm 149 Menschen sterben.
Marcel Kellerhoff plagen keine großen Zukunftsängste, bis zum Alter von 55 Jahren wird seine extra abgeschlossene Versicherung ihn finanziell absichern. Es geht aber weniger um das Geld, sondern viel mehr um das Gefühl, es nicht geschafft zu haben, nicht mehr gebraucht zu werden, das ihn bedrückt. Es ist das Gefühl des Versagens.
Ob es ihm jetzt besser geht mit seiner endgültigen Entscheidung? Marcel Kellerhoff zieht verbittert die Stirn in Falten: „Nicht wirklich. Es geht mir beschissen, richtig beschissen. Der Kopf ist immer noch nicht frei. Keine Ahnung was ich jetzt mache: eine Ausbildung, ein Studium – ich habe keinen Plan!“ Kellerhoff hat das Cockpit für immer verlassen und seinen Lebenstraum damit begraben. Es klingt nicht so, als könne er Stolz dafür empfinden, so einen mutigen Entschluss gefasst zu haben.