Göttingen/Anklam. Über ein Jahrhundert ist es her, dass Otto Lilienthals Gleiter in die Lüfte stieg. Nun soll das Flugobjekt aber wiederbelebt werden.

Er war Ingenieur und tollkühner Testpilot in einem: Otto Lilienthal (1848–1896). Seine revolutionären Flüge mit selbst konstruierten Gleitern eröffneten noch vor den Gebrüdern Wright, die 1903 den ersten Flug mit einem Motorflugzeug absolvierten, den Weg zur modernen Luftfahrt.

Was 2003 zum 100-jährigen Erstflug der Wrights in Amerika passierte, wollen deutsche Forscher und Museumswissenschaftler in Kürze zum 125-jährigen Erstflug von Otto Lilienthal ebenfalls erproben: den aerodynamischen Test eines Flugapparatenachbaus im Windkanal. Die Experten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Göttingen wollen damit herausfinden, welches theoretische Wissen über Stabilität und Steuerung Lilienthal hatte.

Erste Flugversuche in Berlin und Brandenburg

Im Frühjahr 1891 startete Lilienthal im brandenburgischen Derwitz seinen ersten Flugversuch, arbeitete sich auf Weiten von 250 Meter vor. In den folgenden Jahren unternahm er auch in der Nähe von Berlin Flugversuche. Ab 1893 startete er von mehreren Hügeln in den Rhinower Bergen bei Stölln, zwischen Rathenow und Neustadt (Dosse). 1894 ließ Lilienthal in Lichterfelde, damals bei Berlin, einen 15 Meter hohen Hügel aufschütten, den Fliegeberg. Am 9. August 1896 verunglückte er bei einem seiner Flugversuche am Gollenberg bei Stölln tödlich.

Bis zu seinem Tod hatte Lilienthal über 3000 Flugversuche absolviert. 1889 hatte er sein Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ veröffentlicht. Akribisch hatte Lilienthal Störche und Möwen im Flug beobachtet. Seine größten Doppeldecker hatten eine Spannweite von sieben Metern. Doch eine theoretische Abhandlung über die Flugeigenschaften seiner Gleiter blieb er der Nachwelt schuldig, sagt Prof. Andreas Dillmann, Leiter des Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik. Nun könnten die Forscher mit dem Windkanalexperiment die Daten nachliefern.

Zwölf Modelle waren nötig

Es sei reine wissenschaftliche Neugier, aber sicher auch ein bisschen Abenteuerlust, heißt es in Göttingen. Auf jeden Fall ist der Test im Jubiläumsjahr eine Verneigung vor dem Flugpionier, der 1848 in der vorpommerschen Provinzstadt Anklam geboren wurde und mit seinem Normalsegelapparat laut Dillmann das erste Serienflugzeug der Welt konstruierte.

Mindestens zwölf Exemplare des motorlosen Gleitfliegers wurden nach Angaben von Bernd Lukasch gebaut. Er ist Direktor des Otto-Lilienthal-Museums in Anklam. Neun Fluggeräte wurden verkauft. Vier dieser Lilienthalschen Flugapparate sind – in unterschiedlicher Qualität – in London, Moskau, München und Washington erhalten. Nach Originalplänen bauen derzeit Mitarbeiter des Anklamer Museums den Flugapparat nach. Eine Bauzeichnung aus dem Lilienthalschen Konvolut von 1895 bildet die Vorlage. „Entscheidend ist, dass der Nachbau die identischen aerodynamischen Eigenschaften besitzt wie Lilienthals Fluggerät“, sagt der Physiker Lukasch.

Neben Weide, die Lilienthal verwendete, kommt Abacchi–Tropenholz zum Einsatz, das ebenso flexibel und leicht wie Weide sei. Mehr noch als das Holz sei die Qualität des Stoffes – seine Luftdurchlässigkeit und Flächendichte – maßgebend für die Originaltreue. Der Stoff, mit dem der Gleiter mit einer Spannweite von 6,70 Meter bespannt wird, wird derzeit extra angefertigt. Dazu wurde eine Stoffprobe des Originalgleiters im Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie in Mannheim untersucht.

Der Wind ist zum tödlichen Verhängnis geworden

Der Wind war jahrelang Otto Lilienthals Begleiter. Ihm vertraute er sein Leben an, bis er am 9. August 1896 zum tödlichen Verhängnis wurde. Eine Sonnenböe, ein plötzlicher Aufwind, so berichteten Augenzeugen, habe den Gleiter bei seinem Flug ergriffen. Lilienthal sei aus einer Höhe von gut 15 Metern zu Boden gestürzt und liegen geblieben. „Jetzt wollen wir gleich wieder fliegen“, sollen die letzten Worte zu seinem Assistenten gewesen sein. Dann sei er bewusstlos geworden. Der schwer verletzte Luftfahrtpionier wurde mit dem Zug nach Berlin gefahren. Dort, in der Bergmannschen Klinik, erlag Lilienthal einen Tag später seinen Verletzungen.

„Das Fliegen mit dem Lilienthal-Gleiter war ein bisschen wie Barrenturnen“, sagt Dillmann. Man müsse dafür sehr sportlich sein, sich mit den Ellbogen an den Holmen aufstützen, um durch Vor- und Rückschwingen der Beine die Fluggeschwindigkeit zu steuern. Lilienthal lenkte das Fluggerät durch Gewichtsverlagerung. Sein Körper war quasi der Steuerknüppel. Flugexperte Dillmann hat deshalb auch Zweifel, ob sich der Absturz tatsächlich aufgrund einer Sonnenböe ereignete. Denkbar sei auch, dass das Flugzeug instabil gewesen sei und Lilienthal einfach die Kontrolle verloren habe. Die Daten aus dem Windkanal könnten hierzu neue Erkenntnisse liefern.

Ende April, Anfang Mai sollen die Messungen im Windkanal im niederländischen Marknesse starten. Dabei werden alle auf den Flugkörper einwirkenden Kräfte und Drehmomente exakt erfasst. Sie lassen eine Analyse der Flugeigenschaften zu. Lilienthal war der Impulsgeber für die Entwicklung der modernen Luftfahrt, indem er dafür die physikalischen Grundlagen legte. Lilienthal sei der erste gewesen, der den Auftrieb verstanden und gewusst habe, wie ein Flügel gebaut sein muss, damit er Auftrieb erzeugt, sagt Dillmann. „Die Gebrüder Wright haben auf die Ergebnisse von Lilienthal aufgesetzt.“ Ihnen gebühre der Verdienst für die technologische Leistung, Lilienthal der für die wissenschaftliche.