Fukushima. Japans Regierung macht Druck: Um die Reaktor-Ruine von Fukushima herum soll trotz der Strahlung möglichst schnell Normalität einkehren.

Auf der Rikuzenhama-Straße beginnt das Strahlenmessgerät heftig auszuschlagen. „Wenn schon so viel durch das Blech am Boden des Autos durchkommt, dann muss einiges auf der Fahrbahn kleben“, sagt Yoichi Ozawa. Kein Wunder – die Straße läuft hier in zwei Kilometern Entfernung am havarierten Kraftwerk Fukushima Daiichi vorbei. „Der Verkehr von den Reaktor-Ruinen hierher nimmt offenbar einiges an Verschmutzung mit“, spekuliert Ozawa. Vor allem das Gerät zur Messung von Betastrahlen beginnt einige hundert Meter nach der Abzweigung zum Kraftwerk wild zu knacken. „Eigentlich sollte das hier abgesperrt sein“, sagt Ozawa.

Säcke mit kontaminierter Erde stapeln sich in Iitate, Fukushima.
Säcke mit kontaminierter Erde stapeln sich in Iitate, Fukushima. © Finn Mayer-Kuckuk | Finn Mayer-Kuckuk

So ähnliche Sätze sagt Ozawa oft: „Hier dürfte eigentlich keiner wohnen“, oder „kriminell, dass hier schon bald wieder Kinder spielen sollen“. Der 60-Jährige ist Mitglied des „Fukuichi-Strahlenüberwachungsprojekts“, einem Verein, der auf eigene Faust die Kontamination in der Nähe des Kraftwerks misst. Die engagierten Bürger liegen über Kreuz mit der Regierung, die in der Region mit aller Macht den Anschein von Normalität erwecken will. Offizielle Messungen ergeben meist niedrige Werte für radioaktive Verschmutzung. Die Behörden lassen mit dieser Begründung die umliegenden Ortschaften wie Minami-Soma oder Iitate eine nach der anderen wieder zur Besiedlung freigeben.

Erst das Beben, dann der 13 Meter hohe Tsunami

Mitte März 2011 hatte sich eine Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall ereignet. Sie fing mit einem extrem schweren Erdbeben vor der japanischen Küste an: Die Landmasse von Nordostjapan rückte mehrere Meter nach Osten und sackte bis zu einem Meter ab. Nach den Erschütterungen hatten sich die Meiler in dem veralteten Kraftwerk Fukushima Daiichi zunächst automatisch heruntergefahren. Doch dann brach die zweite Katastrophe über den Küstenstrich herein: Eine 13 Meter hohe Flutwelle setzte die Anlage unter Wasser. Mehrere Detonationen schleuderten radioaktive Isotope in den Himmel.

So sieht Fukushima nach dem Tsunami aus

Am 11. März 2011 verwüstete eine Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi die Küstenregion im Nordosten Japans. Mit 9,0 auf der Richterskala war es das stärkste Beben in der Geschichte Japans.
Am 11. März 2011 verwüstete eine Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi die Küstenregion im Nordosten Japans. Mit 9,0 auf der Richterskala war es das stärkste Beben in der Geschichte Japans. © Reuters | REUTERS / YOMIURI
Dem Erdbeben folgte ein Tsunami mit bis zu 15 Meter hohen Wellen. Die Wasserwand traf die Ostküste Japans (hier in der Nähe von Miyako City), mehr als 500 Kilometer Küste wurden zerstört.
Dem Erdbeben folgte ein Tsunami mit bis zu 15 Meter hohen Wellen. Die Wasserwand traf die Ostküste Japans (hier in der Nähe von Miyako City), mehr als 500 Kilometer Küste wurden zerstört. © REUTERS | Mainichi Shimbun
Rund 18.500 Menschen fielen dem Tsunami zum Opfer, er zerstörte rund 260 Dörfer und ganze Städte; mehr als eine Million Häuser wurden beschädigt oder fortgerissen.
Rund 18.500 Menschen fielen dem Tsunami zum Opfer, er zerstörte rund 260 Dörfer und ganze Städte; mehr als eine Million Häuser wurden beschädigt oder fortgerissen. © REUTERS | KYODO
Das Kernkraftwerk traf die Riesen-Welle unvorbereitet, da Fukushima nicht an das Tsunami-Warnsystem angeschlossen war. Die zum Meer liegende, 5,70 Meter hohe Mauer wurde von den Wassermassen überflutet. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 und die Generatoren standen bis zu fünf Meter tief im Wasser, was zum Stromausfall führte.
Das Kernkraftwerk traf die Riesen-Welle unvorbereitet, da Fukushima nicht an das Tsunami-Warnsystem angeschlossen war. Die zum Meer liegende, 5,70 Meter hohe Mauer wurde von den Wassermassen überflutet. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 und die Generatoren standen bis zu fünf Meter tief im Wasser, was zum Stromausfall führte. © dpa | Tepco/ho
Die Folge der Stromausfälle war mangelnde Kühlung: Die Reaktorblöcke 1 bis 3 überhitzten, die gefürchtete Kernschmelze war nicht mehr zu verhindern.
Die Folge der Stromausfälle war mangelnde Kühlung: Die Reaktorblöcke 1 bis 3 überhitzten, die gefürchtete Kernschmelze war nicht mehr zu verhindern. © dpa | Abc Tv
In den folgenden Tagen ereigneten sich immer wieder Explosionen in den betroffenen Blöcken. Hochradioaktiver Schutt, Wasser und Dampf gelangten ungehindert in die Umwelt.
In den folgenden Tagen ereigneten sich immer wieder Explosionen in den betroffenen Blöcken. Hochradioaktiver Schutt, Wasser und Dampf gelangten ungehindert in die Umwelt. © dpa | Tepco / Handout
Ein Satellitenfoto zeigt das Atomkraftwerk Fukushima wenige Sekunden nach einer Explosion in Reaktor 3 am 14. März 2011.
Ein Satellitenfoto zeigt das Atomkraftwerk Fukushima wenige Sekunden nach einer Explosion in Reaktor 3 am 14. März 2011. © dpa | DigitalGlobe
Der Tsunami hinterließ dramatische Zerstörungen. Die Wassermassen spülten Schiffe an Land, etwa in der Hafenstadt Kesennuma.
Der Tsunami hinterließ dramatische Zerstörungen. Die Wassermassen spülten Schiffe an Land, etwa in der Hafenstadt Kesennuma. © dpa | Kimimasa Mayama
Überlebende des Tsunami blickten Tage später auf die verwüstete Gegend um Ishinomaki, etwa 270 Kilometer nördlich von Tokio.
Überlebende des Tsunami blickten Tage später auf die verwüstete Gegend um Ishinomaki, etwa 270 Kilometer nördlich von Tokio. © dpa | Kimimasa Mayama
Verzweiflung im Angesicht der Katastrophe: Inmitten der zerstörten Stadt Natori weinte diese Frau.
Verzweiflung im Angesicht der Katastrophe: Inmitten der zerstörten Stadt Natori weinte diese Frau. © Reuters | Asahi Shimbun
Polizisten in Schutzanzügen suchten nach Opfern in der Umgebung des zerstörten Kernkraftwerks. Den Bereich im Umkreis von 20 Kilometern mussten die Anwohner dauerhaft verlassen.
Polizisten in Schutzanzügen suchten nach Opfern in der Umgebung des zerstörten Kernkraftwerks. Den Bereich im Umkreis von 20 Kilometern mussten die Anwohner dauerhaft verlassen. © Reuters | Kim Kyung Hoon
In dieser Turnhalle in Yamageta kamen einige der Menschen, die ihr Heim verloren hatten, zunächst unter. Für Japan war der GAU die schlimmste humanitäre Krise seit dem zweiten Weltkrieg.
In dieser Turnhalle in Yamageta kamen einige der Menschen, die ihr Heim verloren hatten, zunächst unter. Für Japan war der GAU die schlimmste humanitäre Krise seit dem zweiten Weltkrieg. © Reuters | Yuriko Nakao
Drei Wochen nach der Katastrophe: ein Überblick über die Zerstörung des Kernkraftwerks.
Drei Wochen nach der Katastrophe: ein Überblick über die Zerstörung des Kernkraftwerks. © Reuters | Ho New
Bitte um Entschuldigung: Nach den erschütternden Ereignissen verneigten sich Mitarbeiter der Kernkraftwerk-Betreiberfirma Tepco vor Evakuierten der Ortschaft Kawauchi.
Bitte um Entschuldigung: Nach den erschütternden Ereignissen verneigten sich Mitarbeiter der Kernkraftwerk-Betreiberfirma Tepco vor Evakuierten der Ortschaft Kawauchi. © REUTERS | ISSEI KATO
Japan und die Welt gedachten der Opfer der Katastrophe, selbstverständlich auch Japans Kaiser Akihito (r.) und Kaiserin Michiko.
Japan und die Welt gedachten der Opfer der Katastrophe, selbstverständlich auch Japans Kaiser Akihito (r.) und Kaiserin Michiko. © Reuters | Toru Hanai
Jenseits der offiziellen Gedenkfeiern beteten die Menschen auch an improvisierten Schreinen.
Jenseits der offiziellen Gedenkfeiern beteten die Menschen auch an improvisierten Schreinen. © Reuters | KYODO Kyodo
In Schutzkleidung besuchte diese Frau den Ort, an dem einmal ihr Haus stand.
In Schutzkleidung besuchte diese Frau den Ort, an dem einmal ihr Haus stand. © dpa | Koichi Kamoshida
Das verwüstete Gebiet von Kesennuma in der Präfektur Miyagi am 14. März 2011 (unten) – und der selbe Bereich am 27. Februar 2016 (oben).
Das verwüstete Gebiet von Kesennuma in der Präfektur Miyagi am 14. März 2011 (unten) – und der selbe Bereich am 27. Februar 2016 (oben). © dpa | Kimimasa Mayama
Die Stadt Shinchi in der Präfektur Fukushima am 12. März 2011 und am 27. Februar 2016 (unten).
Die Stadt Shinchi in der Präfektur Fukushima am 12. März 2011 und am 27. Februar 2016 (unten). © Reuters | KYODO Kyodo
Teizo Terasaka (70, l.) und seine Frau Keiko (68) sitzen auf den Überresten der Badewanne ihres Hauses in der verwüsteten Stadt Rikuzentakata, Präfektur Iwate im Mai 2011 (unten). Das Bild oben zeigt den Bereich im Februar 2016.
Teizo Terasaka (70, l.) und seine Frau Keiko (68) sitzen auf den Überresten der Badewanne ihres Hauses in der verwüsteten Stadt Rikuzentakata, Präfektur Iwate im Mai 2011 (unten). Das Bild oben zeigt den Bereich im Februar 2016. © dpa | Kimimasa Mayama
270 Kilometer von Tokio entfernt: das verwüstete Gebiet Ishinomaki in der Präfektur Miyagi am 13. März 2011 (unten) und am 27. Februar 2016 (oben).
270 Kilometer von Tokio entfernt: das verwüstete Gebiet Ishinomaki in der Präfektur Miyagi am 13. März 2011 (unten) und am 27. Februar 2016 (oben). © dpa | Kimimasa Mayama
Der Tsunami spülte am 11. März 2011 in Otsuchi ein Boot auf das Dach eines Hotels (unten, das Bild entstand im Mai 2011). Das Bild oben zeigt den Bereich am 27. Februar 2016.
Der Tsunami spülte am 11. März 2011 in Otsuchi ein Boot auf das Dach eines Hotels (unten, das Bild entstand im Mai 2011). Das Bild oben zeigt den Bereich am 27. Februar 2016. © dpa | Kimimasa Mayama
Tsunami-Überlebende umarmen sich am 14. März 2011 (unten) in Kesennuma in der Präfektur Miyagi. Der gleiche Bereich ist in der oberen Ansicht am 27. Februar 2016 zu sehen.
Tsunami-Überlebende umarmen sich am 14. März 2011 (unten) in Kesennuma in der Präfektur Miyagi. Der gleiche Bereich ist in der oberen Ansicht am 27. Februar 2016 zu sehen. © dpa | Kimimasa Mayama
Die gesundheitlichen Folgen des GAUs sind nicht abzuschätzen.
Die gesundheitlichen Folgen des GAUs sind nicht abzuschätzen. © Reuters | Issei Kato
In den Tagen nach der Katastrophe untersuchten Beamte Anwohner auf Strahlung.
In den Tagen nach der Katastrophe untersuchten Beamte Anwohner auf Strahlung. © REUTERS | KIM KYUNG-HOON
Das Vorhaben, Kernreaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, stieß nach der Katastrophe von Fukushima in der Bevölkerung auf heftige Gegenwehr, zu groß war die Angst vor der Gefahr, dass eine ähnliche Katastrophe passieren könnte.
Das Vorhaben, Kernreaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, stieß nach der Katastrophe von Fukushima in der Bevölkerung auf heftige Gegenwehr, zu groß war die Angst vor der Gefahr, dass eine ähnliche Katastrophe passieren könnte. © Reuters | Sukree Sukplang
Knapp fünf Jahre nach dem Unglück begingen 2016 Medienvertreter in Begleitung von Mitarbeitern von Tepco den Ort der Katastrophe. Um sich vor der nach wie vor extrem hohen Strahlung zu schützen, trugen alle Schutzanzüge.
Knapp fünf Jahre nach dem Unglück begingen 2016 Medienvertreter in Begleitung von Mitarbeitern von Tepco den Ort der Katastrophe. Um sich vor der nach wie vor extrem hohen Strahlung zu schützen, trugen alle Schutzanzüge. © dpa | Toru Hanai / Pool
Ein Blick auf das Reaktorgebäude 3: Sorge bereiten den Sicherheitskräften vor allem die Menge an hochradioaktivem Wasser, das auch das Grundwasser kontaminiert.
Ein Blick auf das Reaktorgebäude 3: Sorge bereiten den Sicherheitskräften vor allem die Menge an hochradioaktivem Wasser, das auch das Grundwasser kontaminiert. © REUTERS | TORU HANAI
Wohin mit dem Sondermüll? Tausende schwarze Plastiktüten mit verstrahlter Erde und Schutt lagern in Tomioka in der Präfektur Fukushima.
Wohin mit dem Sondermüll? Tausende schwarze Plastiktüten mit verstrahlter Erde und Schutt lagern in Tomioka in der Präfektur Fukushima. © dpa | Franck Robichon
1/29

Das Haus von Yoichi Ozawa in der Stadt Minami-Soma liegt 24 Kilometer von dem Kraftwerk entfernt – in Windrichtung. Trotzdem bekommt er keine Entschädigung von der Betreibergesellschaft Tepco: Sein Haus liegt einen Steinwurf weit außerhalb der Evakuierungszone. In den angrenzenden Ortsteil werden die Bewohner im April zurückkehren, derzeit ist er noch eine Geisterstadt. „Die Rückkehr beginnt zu früh“, sagt Ozawa. Wer an zufällig ausgewählten Punkten misst, findet hier immer wieder Stellen, von denen eine Dosis von bis zu zehn Mikrosievert pro Stunde ausgeht. Wer sich hier draußen aufhält, ist einer Jahresstrahlendosis ausgesetzt, die den deutschen Grenzwert für die normale Bevölkerung um den Faktor 90 übertrifft.

2020 richtet Tokio die olympischen Spiele aus – alles soll in Ordnung scheinen

Die Regierung legt ihrer Berechnung daher die Annahme zugrunde, dass die Bewohner sich zumeist in geschlossenen Räumen aufhalten. „An Kinder, die draußen spielen und sich die Hände mit strahlendem Dreck verschmieren, und dann damit Süßigkeiten in den Mund stopfen, denken diese Leute nicht“, sagt Ozawa. Für ihn ist klar, warum die offiziellen Stellen so viel Druck machen: Je länger die Bewohner die übliche Entschädigung von rund 1000 Euro im Monat erhalten, desto länger liegen sie dem Staat auf der Tasche.

Strahlt heftig: Das öffentliche Messgerät untertreibt vor der Turnhalle der Mittelschule von Iitate, zeigt aber immer noch eine viel zu hohe Dosis an.
Strahlt heftig: Das öffentliche Messgerät untertreibt vor der Turnhalle der Mittelschule von Iitate, zeigt aber immer noch eine viel zu hohe Dosis an. © Finn Mayer-Kuckuk | Finn Mayer-Kuckuk

Premier Shinzo Abe hat wohl noch ein zusätzliches Motiv, schnell den Anschein von Normalität zu erwecken: In vier Jahren richtet Tokio die olympischen Spiele aus. Bis dahin soll alles in Ordnung sein. Viele der Bewohner der betroffenen Ortschaften brennen zudem tatsächlich darauf, in ihre angestammten Häuser – und in ihre Heimat – zurückzukehren. Sie haben das Leben in seelenlosen Wohnungen in der Großstadt satt. Viele von ihnen sind Bauern, die wieder ihre Felder bestellen wollen.

Reis aus Fukushima ist nach offizieller Einschätzung zum Verzehr geeignet

Doch wer soll den Reis, den Lauch, den Rettich, das Rindfleisch kaufen, für das die Region bekannt war? Fukushima ist strukturschwach und hat kaum Industrie. Dafür hatte die Präfektur sich einen Namen gemacht als Hersteller leckerer Bio-Produkte. Mit dem naturnahen Image dürfte es jetzt für Jahrzehnte vorbei sein.

Dennoch: Reis aus Fukushima ist nach offizieller Einschätzung uneingeschränkt zum Verzehr geeignet. Auch in der Umgebung des Kraftwerks produzieren die Bauern längst wieder Lebensmittel. Bisher sind es vor allem die Bewohner der Region, die sie trotzig kaufen – dafür gibt es in Supermärkten eigene Ecken wie den „Minami-Soma-Shop“ an einer Raststätte der Autobahn, die mitten durch die Strahlenzone führt. Der Kommentar von Herrn Ozawa ist vorhersagbar: „Ich kann nicht verstehen, warum das einer essen will.“