Moskau. Sie prügeln sich und erpressen Schüler: Jugendbanden terrorisieren russische Städte. Ihre Anweisungen kommen wohl aus Gefängnissen.

Sie kamen nachts, bewaffnet mit Eisenstangen und Steinen, demolierten einen Streifenwagen und die Überwachungskamera der Polizeiwache in der ostsibirischen Kleinstadt Chilok. Die Beamten verbarrikadierten sich drinnen, vertrieben schließlich mit Warnschüssen die Angreifer, Zöglinge des örtlichen Sonderschulinternats. 15 Sonderschüler wurden später festgenommen, fünf mutmaßliche Täter identifiziert. „Die Bullen haben zuerst angefangen“, erklärte einer der Beschuldigten einem Reporter der „Mos­cow Times“.

Der Angriff auf die Polizeiwache Chilok Anfang Februar war der bisher letzte Höhepunkt des kriminellen Kleinkrieges, den eine jugendliche Mafia in der russischen Fernostregion Tschita veranstaltet. In den Vororten der Provinzhauptstadt Tschita und einigen Kleinstädten häufen sich Einbrüche und Raubüberfälle, an mehreren Schulen gilt räuberische Erpressung als Alltäglichkeit.

In der Stadt Nowopawlowka veranstalteten Eltern Ende Januar Selbstjustiz und schlugen mehrere Mitglieder einer Bande zusammen, die an der örtlichen Mittelschule von allen Kindern über ein Jahr Schutzgeld kassiert hatte, je nach Einkommen der Eltern umgerechnet 1,30 bis 3,10 Euro monatlich.

In Kinderheimen finden die Täter Kontakte

Ein junger Autoknacker, den eine Polizeistreife am Badesee Arachlei nahe Tschitas gefasst hatte, fing an zu schreien: „AUE! Freiheit den Dieben!“ Etwa zehn seiner Gesellen eilten herbei, um ihn zu befreien, Einsatzpolizei musste anrücken.

AUE steht abgekürzt für „Arrestanten-Banditen-Einheit“, eine noch aus der sowjetischen Unterwelt stammende Parole. AUE sei eine informelle Jugendbewegung, die die Ideologie der sowjetischen Diebe im Gesetz propagiere, so die Moskauer Menschenrechtlerin Jana Lantratowa. „Die Vertreter dieser Bewegung ernennen in Schulen und Kinderheimen ‚Aufpasser‘, die von Klassenkameraden Tribut für die sogenannte Gemeinschaftskasse fordern.“ Im russischen Sozialnetz „Vkontakte“ gibt es mehrere AUE-Gruppen mit Hunderten, meist jugendlichen Abonnenten.

Die Jugendlichen versorgen Häftlinge mit Zigaretten

Roman Dejew, Chef der Regionalpolizei, versicherte Mitte Februar, in Tschita würden keine Schulkinder erpresst. „AUE als organisierte Bewegung existiert nicht.“ Doch viel spricht dafür, dass AUE in der Region mehr ist als nur Subkultur. „Besonders tiefe Wurzeln hat AUE in den Kinderheimen geschlagen. Das Leben der Jugendlichen dort unterscheidet sich nicht vom Leben im Gefängnis“, heißt es in einer Analyse des Russischen Präsidialrates für Menschenrechte. „Kinder, die nichts in die Gemeinschaftskasse zahlen wollen, werden geächtet. Sie werden geschlagen, in besonders radikalen Fällen auch von den ‚Älteren‘ vergewaltigt oder mit einem spermabefleckten Handtuch gedemütigt.“ Die AUE-Kids würden von einsitzenden Berufsbanditen kontrolliert, per Handy und Internet. Ein AUE-Aktivist versucht, die Bande in ein positives Licht zu rücken. Sie verbiete Drogen wie Spice und beraube niemals alte Damen.

Andere Jungbanditen versichern, man versorge die Häftlinge mit Tee, Zigaretten und Zucker. Unklar ist, ob die AUE-Gemeinschaftskassen ebenfalls aus dem Gefängnis kontrolliert werden.

„Jugendliche aus besonders schwierigen Familienverhältnissen, denen die Gesellschaft weder Freizeit- noch Karriereangebote macht, sind besonders anfällig für Banditenromantik“, sagt der russische Lagerexperte Maxim Gromow. „Berufsverbrecher können für sie schnell zum Ersatzvorbild werden.“

Die Region leidet unter hoher Kriminalität

In der Region Tschita liegt der Anteil der Jugendkriminalität höher als überall sonst in Russland. Es gibt hier elf Straflager, von denen laut Experten nur eins von der Gefängnisverwaltung, alle übrigen dagegen von den Häftlingen kontrolliert werden.

Sergei Tschaban, stellvertretender Regierungschef der Region, glaubt, man müsse wieder mehr Streitkräfte und Militärschulen in die Region bringen, um den Heranwachsenden andere Ideale anzubieten. „Wir hoffen“, sagt er, „unsere leicht beeinflussbare Jugend kann in Zukunft statt mit Mafiaganoven mit Armeekommandeuren verkehren.“