Basra. Vor Jahrzehnten galt Basra als das Venedig des Orients. Ein Besuch zeigt: Heute dominieren Kidnappings, Mafiabanden und Islamismus.

Haidar Ali lässt sich in den schweren Ledersessel der Sheraton-Hotellobby fallen. Hinter den hohen Fenstern fließt der Shatt el-Arab, der gemeinsame Strom von Euphrat und Tigris in den Persischen Golf. Handy und Autoschlüssel landen scheppernd auf dem flachen Tisch, er winkt den Kellner heran und bestellt einen großen schwarzen Kaffee. Daheim hat er schon ein Arak-Schnaps heruntergekippt, „um mich abzuregen“. Die ganze Nacht bis zur Geldübergabe kurz vor Sonnenaufgang war er unterwegs, nun grinst er erschöpft und aufgekratzt. Das Opfer, einen Immobilienmakler, hat er unverletzt freibekommen, den Preis in einem siebentägigen, nervenzerfetzenden Telefonpoker um 90 Prozent auf 50.000 Dollar gedrückt.

Haidar Ali ist Unterhändler bei Kidnappings in Basra, „ein Freundschaftsdienst für betroffene Familien“, wie er sagt. Seine Stimme ist kratzig und dunkel, seine Haare auffallend gefärbt. Im Hosenbund sitzt ein Revolver. Jasminfarben und frisch gebügelt spannt das Oberhemd über seinem Kugelbauch. Am Handgelenk trägt er eine funkelnde Rolex-Uhr, alles echt, wie er betont, bevor er das teure Stück mit den Diamanten stolz herumreicht. Haidar Ali kennt sich aus im Milieu, er weiß, wie man mit Ganoven umspringt, seit sein Sohn vor vier Jahren entführt wurde. Er selbst konnte zwei Mal in letzter Sekunde entwischen, regelmäßig findet er Briefe mit Gewehrpatronen in seinem Postkasten.

Entführungen als Alltagsgeschäft

Aus seiner Sicht war die letzte Woche in Basra eigentlich ganz normal. Es gab zwölf Entführungen – keine politischen Fälle, nur wohlhabende Geschäftsleute. Im Gegenzug floss insgesamt eine Million Dollar. Die Polizei schaut dem Mafiatreiben wie immer tatenlos zu, hat meist selbst ihre Hand mit im schmutzigen Spiel. „Niemand ist hier sicher – so ist das bei uns im Irak“, blinzelt Haidar Ali und pafft den Zigarettenrauch genüsslich über sich in die Luft. Die ersten Tage werden die Unglücklichen gequält und misshandelt, ihre Schreie über Telefon sollen die Familien in Panik versetzen und gefügig machen. „Der kleinste Fehler des Vermittlers kann ihren Tod bedeuten.“ In dieser Woche jedoch kamen alle mit dem Leben davon, der teuerste für 300.000 Dollar, einer für 200.000 und ein dritter für 150.000. So gesehen war Haidar Alis Schützling mit 50.000 Dollar noch ziemlich gut dran.

Kidnapping ist im Irak eine eigene Industrie. Nur in der Hauptstadt Bagdad geht es wüster zu als in Basra. Die Opfer werden gefesselt und in einem Schnellboot verstaut. Vom Zentrum geht es dann den Shatt el-Arab hoch in den Norden, wo die überfüllten, ärmeren Viertel liegen. Die meisten jungen Männer hier sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. So mancher lässt sich auch als schiitischer Milizionär anheuern, um für 1200 Dollar Monatssold gegen den „Islamischen Staat“ zu kämpfen, das Dreifache, was hier normalerweise üblich ist.

Infrastruktur hält nicht mit Einwohnerzahl mit

Doch so düster waren die Zeiten nicht immer. Vor den Dauerkriegen unter Diktator Saddam Hussein, die 1980 begannen, war Basra eine Vorzeigestadt, mondän und wohlhabend, tolerant und lebenslustig. Malerische Kanäle, auf denen Gondeln mit roten Kissen verkehrten, durchzogen die Wohnviertel – eine Welt, von der nur noch ausgeblichene Postkarten geblieben sind. Heute ist das einstige Venedig des Ostens die Kloake des Orients. Überall, selbst über den Obstmarkt, wabert fauliger Dauergestank. Abwasserkanäle und Kläranlagen, Stromleitungen und Trinkwasserrohre, Schulen und Hospitäler, Häuser und Straßen sind zerrüttet. Einst angelegt für 300.000 Bewohner, wird die ramponierte Infrastruktur heute von fünf Mal mehr Menschen beansprucht. Zerfallene Patrizierhäuser in der Altstadt lassen noch die einstige Pracht erahnen. Vor ihren Haustüren in den Kanälen steht eine ölig-schwarze Brühe. Die engen Straßen im Zentrum sind Buckelpisten mit permanentem Sperrmülltag. An jeder Ecke stehen alte Waschmaschinen, Fernseher oder zerfetzte Sofasessel.

Noch mit am besten erhalten inmitten dieser Tristesse ist das zweistöckige „Haus der Kunst“, eine ehemalige Notablenvilla, die 1915 von einem Golfprinzen gebaut wurde, den die britischen Kolonialherren später hinrichteten. Immer wieder unterbrochen durch Stromausfälle versuchen an diesem Abend ein Dutzend Maler, Schriftsteller und Filmemacher über ihre Stadt zu reden. In den goldenen sechziger und siebziger Jahren konkurrierten 50 Kinos um die Zuschauer, erzählen sie, heute gebe es kein einziges mehr. Genauso verschwunden seien die zwölf Theater, das Konzerthaus und die zwei Dutzend Buchhandlungen. „Kulturinteressierte in Basra, das sind heute vielleicht noch einige hundert.“ Stattdessen fließe praktisch alles Geld in religiöse Projekte – Moscheen, Pilgerreisen und fromme Koranzentren, in denen Männer abends heilige Texte lesen. „Basra ist eine fundamentalistische Stadt geworden“, klagt die einsame Künstlerrunde. „Die Menschen verehren Tod und Leid und haben das Glücklichsein verlernt“. Die Ausfallstraßen sind gepflastert mit Plakaten von gefallenen schiitischen Helden und streng blickenden Ayatollahs. Fast alle Frauen tragen schwarzen Schador nach dem Vorbild der Islamischen Republik nebenan, was dem Straßenbild das übliche, triste islamistische Einheitsgepräge gibt.

Der Ölreichtum, von dem keiner etwas merkt

Mohammed Eitan lebt seit Jahren hinter hohen Mauern. Der 57-Jährige besitzt in Basra die Fernsehstation Al-Fayhaa und moderierte zehn Jahre lang eine eigene tägliche Talkshow, die alle diese Missstände aufs Korn nahm. Hoch über den Studios hat er irgendwo seine Privatwohnung. Seine Frau und die drei halbwüchsigen Kinder leben nach wie vor im Exil in London. Neben dem schweren Eisentor ließ er ein Regal aufstellen, auf dem sechs Feuerlöscher stehen. Draußen in der Dunkelheit schwatzen leise ein halbes Dutzend privater Wachleute. Seit 18 Monaten sitzt Mohammed Eitan jetzt als parteiloser Abgeordneter im Nationalparlament in Bagdad – und hat sich viele Feinde gemacht. Als Mitglied des Finanzausschusses deckte er auf, dass im letzten Jahrzehnt insgesamt 6000 Investitionsprojekte mit einem Volumen von 228 Milliarden Dollar beauftragt wurden, die niemals zustande kamen und deren Gelder spurlos in den Taschen korrupter Politiker und Bürokraten verschwanden. „Eine solche Dimension von Korruption zerstört den Staat“, sagt er. Daher will Mohammed Eitan für die Südprovinz Basra mit ihren drei Millionen Einwohnern einen ähnlichen Autonomiestatus erstreiten wie der kurdische Nordirak.

„80 Prozent des irakischen Ölreichtums kommt aus unserer Gegend, doch es fließt nichts zurück“, argumentiert der Neu-Politiker. Ein Drittel der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Seit der amerikanischen Invasion 2003 habe es keine größere Investition mehr für die Stadt gegeben, obwohl dringend ein neues Krankenhaus, eine weitere Universität und eine Raffinerie gebaut werden müssten. Und so kamen die 35.000 Unterschriften, die laut Verfassung für den Antrag eines Referendums notwendig sind, schnell zusammen. Seitdem jedoch mauern die Mächtigen in Bagdad nach Kräften. Dabei müssten sie die Volksabstimmung nun organisieren. Alle großen schiitischen Parteien und die Schutzmacht Iran lehnen eine Autonomie Basras kategorisch ab, weil dies den endgültigen Staatszerfall bedeuten könnte.

Das multikulturelle Basra gibt es nur noch in Büchern

Die Stadt als unabhängige Golfrepublik vom Irak abzutrennen, diese Träume gab es schon immer, weiß Ihsan Waal Samarrai, der sich jahrzehntelang als Chronist von Basra einen Namen gemacht hat. Sein Haus am Ende einer Sackgasse hat eine mächtige Palme im Hof. Gäste bewirtet der 74-jährige Witwer mit eigenen Basra-Datteln, die klein und besonders wohlschmeckend sind. Er hat eine Anthologie über die glänzende Vergangenheit seiner Heimatstadt herausgegeben, ihre berühmten Häuser und Cafés, ihre Geschäftsleute und Literaten, ihre Feste und Festivals. 4000 Bücher über Basra stehen ringsherum in den Regalen seines Arbeitszimmers, in dem er lesend und schreibend seine Tage verbringt, meist eingehüllt in dichten Pfeifenrauch. Unter Saddam Hussein saß Ihsan Waal Samarrai wegen regimekritischer Essays vier Jahre lang in Isolationshaft. „Basra ist eine Tragödie“, seufzt er. Nichts sei geblieben von dem multikulturellen Geist, als Sunniten, Schiiten, Christen, Juden, Hindus, Perser und Mandäer hier in Frieden zusammenlebten. „Das alte Basra existiert nur noch in Büchern und in unserer Erinnerung – und es wird endgültig mit uns verschwinden.“ Vor die Tür geht der alte Mann nur noch ganz selten. „Ich habe keine Angst vor Entführung“, sagt er. „Aber ich kann das Elend meiner Stadt nicht mehr mitansehen.“