Krefeld. Der Arzt der Sekte Colona Dignidad wurde in Chile verurteilt, lebt aber als freier Mann weiter. In Krefeld prüft man jetzt den Fall.

Es geht um viele Meter Akten, es geht um Gesetze und Aussage gegen Aussage. Doch nur zwischen den Zeilen all dieser Akten schimmert durch: die Schreie, die Folter, die Vergewaltigungen. Es geht um jahrzehntelange furchtbare Zustände in einer Siedlung 400 km südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago und 12.000 Kilometer von Deutschland entfernt. Schon an dem Namen der Siedlung ist so viel falsch: „Die Kolonie der Würde“ — auf spanisch: Colonia Dignidad.

Sie gerät jetzt wieder in den Fokus der Öffentlichkeit, weil am Donnerstag ein Film in die Kinos kommt, der einmal mehr die Gräueltaten dieser 1961 gegründeten deutschen Minikolonie in Chile aufzeigt. Im Film wird Daniel (Daniel Brühl) in die Kolonie verschleppt und seine Freundin Lena (Emma Watson) versucht, ihn zu befreien. Dabei sieht sie, wie die Menschen auf den 30.000 Hektar innerhalb des Elektrozauns leben müssen: Mindestens 16 Stunden Zwangsarbeit, willkürliche Schläge, wenig Essen, keine privaten Gespräche, Privatsphäre sowieso nicht. Sexualität wird unterdrückt — nur der Sektenführer Paul Schäfer (Michael Nyqvist) darf sie ausleben: an kleinen Jungen. Die Grausamkeiten hinter dieser deutschen Fassade dauerten über 40 Jahre und beschäftigen noch jetzt die Gerichte in Deutschland.

Ehemaliger Arzt der Sekte soll Mitwisser sein

Paul Schäfer ist längst gestorben, aber viele überlebende Opfer nennen den Namen eines anderen Mitwissers: Hartmut Hopp, der lange Zeit der Chef des Krankenhauses der Colonia Dignidad war. Ein chilenisches Gericht verurteilte ihn im Jahr 2004 wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung in mehreren Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.

Das Gericht nennt ihn einen „genauen Kenner der Situation“. Er versuchte, gegen das Urteil vorzugehen, aber der Oberste Gerichtshof in Santiago de Chile bestätigte das Urteil im Jahr 2013 — und da Hopp in Deutschland lebt, fragte Chile in Deutschland an, einerseits mit der Bitte um Auslieferung, die zunächst abgelehnt wurde, und andererseits im Jahr 2015 um sogenannte Vollstreckungsübernahme. Sprich: Hopp könnte seine Strafe in einem deutschen Gefängnis absitzen. Beide Verfahren müssen in Krefeld geklärt werden.

Hopps Anwalt sieht dem Verfahren in Deutschland gelassen entgegen

Der Krefelder Oberstaatsanwalt Axel Stahl weiß, dass die Öffentlichkeit sehr interessiert und wegen des Films sehr aufmerksam ist. „Aber das allein wird das Verfahren wohl trotzdem nicht beschleunigen“, sagt Stahl dieser Zeitung. „Ich denke aber, dass wir in der ersten Instanz schon in diesem Jahr mit einer Entscheidung rechnen können.“ Er meint den Fall der Übernahme der Strafvollstreckung. Dafür müsse geklärt werden, ob die chilenische Rechtsprechung den nationalen Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren entspreche. „Die Rechtskulturen sind sehr unterschiedlich“, sagt Stahl weiter.

„Ich tue der chilenischen Justiz kein Unrecht, wenn ich sage, dass sie sich jedenfalls zu Beginn des Verfahrens gegen Hopp in einem Transformationsprozess befunden hat.“ Das schließt für den Staatsanwalt ein, dass er viele ehemalige Opfer der Colonia Dignidad, die zum Teil ebenfalls im Raum Krefeld wohnen, zur Aussage bittet. Das sei nicht einfach, da manche Opfer noch immer in alten quasireligiösen Vorstellungen gefangen seien. „Der Vergebungsgedanke“, sagt Stahl, „ist bei einigen ehemaligen Angehörigen der Colonia stark ausgeprägt.“

Die Kolonie ist heute eine Touristenattraktion

Hartmut Hopps deutscher Verteidiger, Helfried Roubiček, aber sieht dem Verfahren gelassen entgegen. „An keiner Stelle des Verfahrens in Chile“, sagt er dieser Zeitung, „wird deutlich, dass mein Mandant ein genauer Kenner der gesamten Situation war.“ Es könne ihm nichts nachgewiesen werden und er widerspreche auch jedweder Beteiligung an Sexualverbrechen in welcher Form auch immer. Roubiček sieht es als erwiesen an, dass die alte chilenische Prozessordnung, nach der Hopp verurteilt wurde, nicht international anerkannt werden kann. Zudem sei der Richter nicht unabhängig gewesen. „Ich kenne Chile gut“, sagt er, „ich habe dort neun Jahre selbst gelebt.“

Schon deshalb wolle sich der Anwalt den Film unbedingt anschauen. Er ist über die vergangenen Jahre zu einer Art Experte für die Colonia Dignidad geworden, kennt viele Aussagen von Opfern. Doch für den Prozess wird der Film unerheblich sein. „Ich vertraue da ganz der deutschen Justiz“, sagt Roubiček. Hartmut Hopp ist inzwischen 70 Jahre alt. Da keine Fluchtgefahr besteht, kommt er auch nicht in Untersuchungshaft.

Das Gelände der Colonia Dignidad ist inzwischen ein Freizeitpark für Touristen in Chile geworden. „Villa Baviera“, das bayrische Dorf, heißt sie jetzt. An der Außenwand des dazugehörigen Hotels hängt ein Plakat über die Geschichte. Bei der Epoche 1961–1997 steht nur: „Años difíciles“ – auf deutsch: „die schwierigen Jahre“.