Berlin . Die Diskussion dauert seit Jahrzehnten an: Die Braubranche sieht das Reinheitsgebot als Markenkern, doch es gibt auch Kritik daran.

Zur Hauptsendezeit um 20.15 Uhr transportierte das ZDF diese brisanten Thesen in die Wohnzimmer der Republik: Das deutsche Reinheitsgebot bestehe nur noch auf dem Papier. Es sei mehr Romantik als Realität, reines Marketing. Bei der Bierproduktion seien heute diverse Hilfsstoffe zugelassen. Es moderierte ein Prominenter – Sternekoch Nelson Müller.

Mit der Sendung „Wie gut ist unser Bier?“ war die Debatte über das Reinheitsgebot um eine kritische Stimme reicher geworden, nur wenige Monate vor den großen Feierlichkeiten zu dessen 500. Geburtstag. Der Deutsche Brauer-Bund widersprach, gebraut werde auch weiterhin nur mit natürlichen Zutaten: Wasser, Hopfen, Malz, Hefe. „Außer Kohlendioxid und Stickstoff als Treibgase sind Zusatzstoffe verboten“, sagte Sprecher Marc-Oliver Huhnholz. Die Aussagen im ZDF nannte er fehlerhaft und abwegig.

Gerichtshof kippt 1987 das Importverbot

Die kontroverse Diskussion über die Reinheit des deutschen Bieres dauert seit Jahrzehnten an. Einen Höhepunkt erlebte sie Mitte der 80er-Jahre. Das Reinheitsgebot war Gegenstand eines mehrjährigen Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der kippte im April 1987 das deutsche Importverbot für Biere, die nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut waren. „Diskriminierung ausländischer Produkte; ein Verstoß gegen den vertraglich vereinbarten Warenaustausch in Europa; Protektionismus“, urteilten die Richter in Straßburg. Die deutsche Volksseele kochte. Viele befürchteten eine Schwemme „gepanschten Bieres“ aus dem Ausland. Die Zeitungen waren voll von mahnenden Berichten.

Bei genauer Betrachtung hatte das Gebot der Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. schon damals etwas Symbolisches. Denn bei der Festschreibung am 23. April 1516 in Ingolstadt hieß es gar nicht Reinheitsgebot. Es galt zunächst nur in Bayern und wurde mehrfach modifiziert. Mal waren Kräuter- und Gewürzzusätze verboten, dann wieder erlaubt. Hefe war vor 500 Jahren als Mikroorganismus gänzlich unbekannt.

Bilsenkraut verdrehte Menschen den Kopf

Die Verordnung war Schutzwerkzeug für Bäcker, Preisbremse und Einnahmequelle. Für die herrschenden Herzöge gehörten Weizen und Roggen ins Brot. Wer sie zum Brauen nutzen wollte, musste teure Konzessionen kaufen. Das Preisdiktat sollte sicherstellen, dass das beim Volk beliebte Bier bezahlbar blieb. Reinheit war nur ein Aspekt von vielen. Vor allem das halluzinogene Bilsenkraut sollte aus dem Bier verbannt werden. Weil es den Menschen zusätzlich zum Alkohol den Kopf verdrehte.

Was deutsche Bierbrauer im 500. Jahr des Reinheitsgebotes einhalten müssen, ist im Biergesetz von 1993 geregelt. Verboten sind künstliche Aromen, Enzyme, Emulgatoren, Stabilisatoren, Konservierungsstoffe. Doch die moderne Wissenschaft hat Einzug gehalten in den Produktionsprozess. Es geht um geschmackliche Stabilität, klare Farbe, Haltbarkeit. Hopfen darf als Pellet, Pulver oder Extrakt verarbeitet werden, bei der Bierfiltration kommen Kieselgur oder der Kunststoff Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP) zum Einsatz, die Eiweiße und Hefezellen binden.

Verhindert das Reinheitsgebot Innovationen?

Das Gesetz nennt sie „Hilfsmittel“, die vollständig aus dem Bier entfernt werden müssen, die nicht chemisch wirken, Geschmack und Geruch nicht verändern dürfen. Auch der Einsatz von Süßstoff, Zucker und Zuckercouleur ist zulässig, jedenfalls für obergärige Biere, auch zum Färben. „Sie kommen aber nur bei einigen traditionellen regionalen Spezialitäten zum Einsatz. Für den deutschen Markt spielt Zucker insgesamt keine Rolle“, sagt der Deutsche Brauer-Bund.

Lars Seyfried von der Kampagne für gutes Bier, einer Verbraucherinitiative aus Hamburg, kennt alle Facetten der Reinheitsdebatte. Vor Jahren nannte er das Gebot schon mal ein „Traditionsbollwerk“, das Innovationen in der deutschen Braukunst behindere. Heute sieht Seyfried die Sache nüchterner: „Es gibt gutes Bier aus dem Ausland, das mit Zutaten hergestellt worden ist, die dem Reinheitsgebot widersprechen“, sagt er. Aus Belgien etwa kämen hervorragende Frucht- oder Gewürzbiere. „Wichtig ist, dass Bier aus hochwertigen Zutaten besteht und hohen handwerklichen Ansprüchen genügt.“ Seyfried plädiert für Experimentierfreude: „Im Rahmen des Reinheitsgebots ist es möglich, sehr vielfältig zu brauen“, sagt er. Viele regionale Biere seien ein Lichtblick. „Ich hoffe, dass die deutschen Brauer ihre Freude daran entwickeln, Bier noch besser zu machen.“ Ein Plädoyer für Klasse statt Masse, für geschmackliche Vielfalt statt Gleichförmigkeit der sogenannten Fernsehbiere.

Jede Woche ein neues Bier auf dem Markt

Kulturgut, Tradition, Heimat – die Begriffe, die der Brauer-Bund in seinen Imagekampagnen mit Bier verbindet, spielen auffallend oft auf Emotionen an. Von der Brauindustrie ist wenig zu sehen, mehr vom Handwerk. „Jede Woche kommt in Deutschland mindestens ein neues Bier auf den Markt. Derzeit gibt es 1352 Brauereien und 5500 Marken“, sagt Geschäftsführer Holger Eichele. Das Reinheitsgebot schwingt dabei immer mit. In Zeiten vieler Lebensmittelskandale habe es für die Brauer sogar an Bedeutung gewonnen. Es sei moderner denn je. Ein Markenkern, ein Qualitätssiegel und gut für den Export, der mit seinem Wachstum die in der Heimat stagnierenden Geschäfte stützt. Vor allem in den USA und China wird das deutsche Bier immer beliebter.

Dass der Brauer-Bund mit seiner Interpretation des Reinheitsgebotes richtig liegt, davon hat er sich rechtzeitig zum 500. Geburtstag noch einmal rückversichert. Er gab eine Umfrage in Auftrag, die bemerkenswerte und werbewirksame Zahlen lieferte: 85 Prozent der deutschen Verbraucher wollen am Gebot festhalten. Und acht von zehn würden sogar noch einen Schritt weiter gehen: Sie würden es begrüßen, wenn es hierzulande ein Reinheitsgebot auch für andere Genuss- und Lebensmittel gäbe.