Dortmund/Essen. 31 Jahre nach dem Mord an einem Kind in Essen gibt es Zweifel, ob der Richtige seither in Haft sitzt. Der Fall wird neu aufgerollt.

Hat ein Unschuldiger jahrelang in der geschlossenen Psychiatrie gesessen, weil er fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt wurde? Das Landgericht Dortmund hat zugelassen, dass das Verfahren gegen Dirk K. (52) neu aufgerollt wird. Laut Urteil des Essener Landgerichtes soll er 1985 einen siebenjährigen Jungen in Essen umgebracht haben soll. Das Gericht setzte den Mann umgehend auf freien Fuß.

31 Jahre lang hatte der als geistig behindert geltende Dirk K. in den geschlossenen Abteilungen von Landeskliniken gesessen. Jedes Jahr beurteilten die Gerichte, ob von ihm weiterhin eine Gefahr ausgeht. Und jedes Jahr bejahten sie dies. Zuletzt bekam Dirk K. am 26. März 2015 zu hören, dass die Justiz es weiterhin nicht verantworten will, ihn in die Freiheit zu entlassen.

Nara (7) wurde vor Tod missbraucht

Dirk K. war für die Justiz der Täter. Überführt durch „Hinweis Nr. 81“, der die Polizei 1985 auf die Spur von Dirk K. gebracht hatte. Fieberhaft hatte sie nach dem Mörder des sieben Jahre alten Nara Michael gesucht. Der Junge war am Montag, 22. April 1985, nicht mehr vom Spielplatz aus in sein Elternhaus zurückgekehrt.

Am Dienstag entdeckte die Polizei ihn unter einem Ilexgebüsch in einem Waldstück, nur 300 Meter entfernt von zu Hause. Entkleidet lag seine Leiche da, offenbar war Nara Michael sexuell missbraucht und erwürgt worden.

Am 29. April nahm die Polizei Dirk K. fest, einen erst 21 Jahre alten geistig Behinderten aus der Nachbarschaft des Toten. Bei seiner Vernehmung soll er die Tat gestanden haben. Er hätte den Jungen am Spielplatz angesprochen. Nara Michael sei aber weggelaufen. Dirk K. lief hinterher, schnell hätte er ihn eingeholt. Den Beamten soll Dirk K. gestanden haben, dass er den Jungen missbrauchte und schließlich erwürgte, weil dieser nicht aufgehört habe zu schreien.

Anderes Geständnis galt als bedeutungslos

Dieses Geständnis wiederholte der Verdächtige nicht mehr. Dem Essener Schwurgericht reichten die Beweise aber aus, ihn als Täter einzustufen. Weil er schuldunfähig war, sprach das Gericht ihn zwar am 11. November 1986 aus formalen Gründen vom Vorwurf des Mordes frei. Weil er gefährlich sei, wies es ihn aber in die geschlossene Psychiatrie ein. Dort blieb er, galt als nicht therapierbar und gefährlich. Daran änderte sich auch nichts, als ein Anwalt sich 1997 bei den Ermittlungsbehörden meldete. Einer seiner Mandanten, der in Therapie sitze, habe den Mord an Nara Michael gestanden. Zwölf Jahre nach dem Vorfall. Polizei und Staatsanwaltschaft prüfen dieses Geständnis und bewerten es als bedeutungslos. Birgit Jürgens, aktuell für Mordermittlungen in der Essener Staatsanwaltschaft zuständig, sagt, das Geständnis hätte auch nicht zu den objektiven Gegebenheiten gepasst.

Dirk K. bleibt weiter eingesperrt – bis der auf Unterbringungsrecht spezialisierte Hamburger Rechtsanwalt Achim Lüdeke Kontakt zu ihm bekommt und das Geständnis des anderen Mannes entdeckt. Lüdeke beantragt die Wiederaufnahme, doch das zuständige Dortmunder Schwurgericht weist den Antrag zurück. Auf Lüdekes Beschwerde wird dieser Beschluss aufgehoben, Dirk K. bekommt an einer anderen Dortmunder Kammer eine zweite Chance. Und tatsächlich: Die 39. Strafkammer genehmigt jetzt die Wiederaufnahme. Pressesprecher Kay Holtgrewe: „Die Kammer geht davon aus, dass das Landgericht Essen anders entschieden hätte, wenn das Geständnis von 1997 bereits 1986 bekannt gewesen wäre.“

Anwalt Lüdeke ist nach dieser Entscheidung „schon optimistisch“, dass Dirk K. in einer neuen Hauptverhandlung nicht verurteilt wird. Ein Termin für diesen Prozess ist noch nicht angesetzt.

Fall ist vorläufig ungeklärt

Juristisch ist jetzt alles auf den Stand der Anklage von 1985 zurückgestellt. Dirk K. ist zwar frei, lebt jetzt aber in einer Einrichtung, die sich um Straftäter mit psychischen Problemen kümmert. An den Antrag, ihn wegen seiner noch 2015 bescheinigten Gefährlichkeit wieder in der geschlossenen Psychiatrie unterzubringen, denkt die Dortmunder Staatsanwaltschaft nicht. Sprecher Henner Kruse: „Es gilt die Unschuldsvermutung, wir haben auch keinen dringenden Tatverdacht mehr.“

Doch das Rätsel um die Tat ist immer noch nicht gelöst. Der Mann, der 1997 die Tat gestanden hatte, ist vom Dortmunder Gericht gehört worden. Er soll sein Geständnis nicht wiederholt haben. Staatsanwältin Birgit Jürgens: „Ich warte den Dortmunder Beschluss ab. Bislang habe ich aber keinen Haftbefehl beantragt, weil ich keinen dringenden Tatverdacht habe.“