Washington. Bis Sonntag soll der Blizzard an der US-Ostküste 90 Zentimeter Schnee bringen. In Kentucky und North Carolina gab es die ersten Toten.

Scott Kelly hatte wieder einmal die beste Perspektive auf „Jonas“. Von der Internationalen Raumstation ISS aus, die der US-Astronaut seit über 300 Tagen bewohnt, sah der Schneesturm über Washington aus wie einige riesige aufgeschüttelte Daunendecke. Am Boden ging es entschieden weniger kuschelig zu.

Amerikas Hauptstadt ging bereits am Samstagmorgen komplett in die Knie. Der Schneesturm, der weite Teile der Ostküste bis rauf nach New York überzieht, hinterließ über Nacht Schneehöhen bis zu 45 Zentimeter. Die Kapitale glich einer Geisterstadt. Schulen und die meisten Geschäfte waren geschlossen, die Regierungsbehörden auf Notbesetzung reduziert, große Sportveranstaltungen abgesagt. Auf den großen Ausfallstraßen steckten selbst Räumfahrzeuge fest. Militär-Humvees der Nationalgarde übernahmen den Transport von Menschen, da, wo zivile Krankenwagen und Feuerwehr-Trucks nicht mehr durchkamen. Der öffentliche Nahverkehr inklusive U-Bahn ist bis Sonntag komplett außer Betrieb gesetzt.

Neuer Redkord: Mindestens 90 Zentimeter Neuschnee

Meteorologen hatten in der Nacht errechnet, dass die Schneedecke alle sechs Stunden um rund 25 Zentimeter zunehmen wird. Stark begünstigt durch zusätzliche Feuchtigkeit, die der Blizzard aufsaugt, seit er den Atlantik erreicht hat: Erwartete Endmarke am Sonntagmorgen: „90 Zentimeter plus x“. Was den bisherigen Rekord vom Winter 1922 übertreffen würde. Im „Knickerbocker“-Blizzard wurden 70 Zentimeter gemessen. Dagegen war der Wintersturm im Februar 2010, der den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) fast eine Woche in Washington im Hotel festsetzte, mit 40 Zentimeter Schneedecke beinahe Kinderkram.

Ein Obdachloser wärmt sich am Wasserdampf eines sogenannten „steam grates“.
Ein Obdachloser wärmt sich am Wasserdampf eines sogenannten „steam grates“. © dpa | Jim Lo Scalzo

Washingtons Bürgermeisterin Muriel Browser setzte sich mit ernster Miene am Samstag ins Frühstücksfernsehen und warnte eindringlich: „Dieser Sturm kann tödlich sein. Leute, bleibt bitte zu Hause, beschäftigt euch mit euren Familien und wartet in Ruhe das Ende ab.“

Erste Todesopfer auf schneeglatter Straße

Einige hunderte Kilometer südwestlich der Hauptstadt in Kentucky und North Carolina hatte der Sturm, der in den sozialen Netzwerken als „Snowzilla“, „Snowpocalypse“ oder „Snowmaggedon“ auftaucht, die ersten Todesopfer gefordert. Bei Unfällen auf vereister Straße kamen laut Polizei acht Menschen ums Leben. Hunderte steckten auf der Autobahn I 75 zwölf Stunden lang in einem 60 Kilometer langen Stau fest. Insgesamt sind rund 85 Millionen Menschen in 19 Bundesstaaten von Arkansas bis New Jersey von den Auswirkungen des Sturms betroffen, berichtet der nationale Wetterservice.

Während der Zugverkehr entlang des Ostküstenkorridors von Boston nach Washington in eingeschränktem Umfang funktionierte, herrschte bereits seit Freitagabend nicht nur an den Flughäfen der Metropolregion (Dulles, Reagan und Baltimore) Ausnahmezustand: Mehr als 10.000 Flüge wurden nach Angaben der Aufsichtsbehörde an der Ostküste abgesagt.

Angst vor Stromausfällen war vielerorts unbegründet

Befürchtungen, dass es schnell zu massenhaften Stromausfällen kommen würde, erwiesen sich als unberechtigt. Die Energie-Versorger in Washington und den angrenzenden Bundesstaaten Maryland und Virginia meldeten am Samstagmorgen nur „einige hundert Fälle“. Sollte der Blizzard jedoch an Tempo zulegen und womöglich noch Eisregen mitbringen, sei es kaum zu vermeiden, dass Äste die oberirdisch verlegten Leitungen kappen. „Dann kann es viele Tage dauern, bis die Schäden in Zehntausenden Haushalten behoben sind“, sagte ein Sprecher des Stromversorgers Pepco.

Allerdings: Nicht überall hatten die Menschen Glück und wurden von Stromausfällen verschont. Wegen des schweren Schnees auf den Stromleitungen waren etwa in Virginia Zehntausende Menschen von Stromausfällen betroffen.

Linda Burke, Rentnerin mit Hund im Washingtoner Stadtteil Chevy Chase, hatte sich wie viele Washingtonians bereits Mitte der Woche mit Trinkwasser, Konserven, Taschenlampen und Batterien eingedeckt: „Vor dem Schnee habe ich keine Angst. Aber wenn Licht und Heizung ausgehen, dann wird es hier sehr ungemütlich. Zur Not wird meine Enkelin mich irgendwie hier rausholen.“

Für Sonntag haben die Meteorologen das Schnee-Ende, eisigen Sonnenschein und blauen Himmel angekündigt. Hobby-Ski-Langläufer werden dann auf der „Mall“ im Herzen der Stadt und im Rock Creek Park ihre Loipen ziehen, während am Kongress (Capitol Hill) zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Schlittenfahren gestattet ist. Ab Montag wird Washington dann zur Schaufel greifen und sich langsam ausgraben. Scott Kelly wird es aus behaglicher Entfernung mitverfolgen. (mit dpa)