Hamburg. Mauerfall und Modern Talking, Kohl, Kalter Krieg und kein WWW: Ein Historiker erklärt, wie die 80er zum beliebtesten Jahrzehnt wurden.

Die 80er-Jahre sind das beliebteste Jahrzehnt der Deutschen: Das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage von YouGov mit 2000 Teilnehmern ist nicht verwunderlich für Historiker Axel Schildt (64), Professor für neuere Geschichte an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Lars Wienand sprach mit ihm über Kohl, den Kalten Krieg und wie Geschichte in der Erinnerung verklärt wird.

Wenn die Deutschen sich aussuchen könnten, wann sie leben wollen, werden die 80er-Jahre am häufigsten genannt. Wie erklären Sie sich die Vorliebe?

Professor Axel Schildt ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte.
Professor Axel Schildt ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. © Universität Hamburg | Universität Hamburg

Prof. Axel Schildt: Ohne die Methodik der Umfrage zu kennen: Die 1980er Jahre liegen mit 23 Prozent zwar an der Spitze der Beliebtheit, aber viele präferieren andere Jahrzehnte. Bei denen, die das so empfinden, hat das sicherlich viel mit der verklärten Erinnerung an die eigene Jugend zu tun. Es ist generell ein Phänomen, zumindest für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg, dass einzelne Dekaden mit 30 Jahren Verspätung sehr positiv wahrgenommen werden. Das ist die Zeitspanne einer Generation. Es braucht seine Zeit, um Vergangenheit gedanklich als positiv zu konstruieren; das sieht man auch an der abnehmenden Beliebtheit der späteren Zeiträume in dieser Umfrage. Das sind aber auch die Rhythmen, in denen sich Zeitgeschichte bewegt. Dieses Phänomen erleben wir also nicht nur in den Medien, in Film und Musik, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. In den 80ern waren die Historiker vor allem mit den 50ern beschäftigt, in den Nuller Jahren mit den 70ern und jetzt vielfach mit den 80ern.

Aber die 80er-Jahre brachten ja auch positive Entwicklungen. Haben sie sich die Beliebtheit verdient?

Schildt: Das Ende des Kalten Krieges und der Fall der Mauer spielen sicher auch eine Rolle. Vage erinnern sich Menschen aber auch daran, dass der Sozialstaat damals anders ausgestaltet war, und sie stellen das dem unbeschränkteren Kapitalismus von heute gegenüber. Aber auch damals als negativ wahrgenommene Dinge werden heute anders bewertet. Die vermeintlich bleierne Zeit unter Kohl ist dann eine Zeit der Kontinuität. Und selbst der Kalte Krieg bedeutete eine Zeit der Verlässlichkeit, während die versprochene „Friedensdividende“ nicht ausgezahlt wurde, wie das Jahr 2015 besonders dramatisch verdeutlichte. Die 80er-Jahre strahlen etwas von Langeweile aus, das wird positiv als Ruhe wahrgenommen. Man glaubte seinerzeit ja schon nicht mehr, dass Regierungen die Strategie hätten, wirklich einen Atomkrieg führen zu wollen, das traute man nur noch Verrückten in Bond-Filmen zu. Es gab Ängste – aber es ist ja alles gut ausgegangen. Es ist im Rückblick alles harmlos und nett. Tschernobyl ist heute in jeder Beziehung auch weit weg, und an islamistischen Terrorismus dachte damals niemand. Im Osten dürften die 80er-Jahren als die Zeit wahrgenommen werden, in der die Unfreiheit der DDR gegenüber früheren Zeiten abgenommen hatte und es größere Möglichkeiten gab, sich dem System zu entziehen. Und ganz allgemein: Die 80er-Jahre waren eine Zeit, die noch nicht so beschleunigt war wie das Leben heute. Das langsamere Tempo, die scheinbare Beschaulichkeit erscheint sicher manchem positiv.

Kann man Jahrzehnte einfacher mit einander vergleichen?

Schildt: Es wird so getan, als ob Dekaden eine abgeschlossene Einheit bilden. Das ist eine Konstruktion von großer Suggestivkraft, aber die meisten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen halten sich nicht an solche Kalendarik. Noch dazu werden häufig einzelne Ereignisse als prägend für die ganze Dekade wahrgenommen. Bei den 70er-Jahren wird oft vor allem an den schwierigen Abschnitt der zweiten Hälfte mit RAF und Ölkrise gedacht. Bei den 80ern ist es auch die zweite Hälfte, die in Erinnerung ist, und die ist positiv. Generell ist es so, dass für einen Zeitraum Dinge in den Vordergrund rücken, an die man sich gerne erinnert.

In welchem Jahrzehnt seit 1950 würden Sie gerne leben – und wie schneiden bei Ihnen die 80er-Jahre ab?

Schildt: Als Kind der 1950er Jahre – Geburtsjahr 1951 – fiel meine Jugendzeit in die Zeit von der Mitte der 1960er bis in die Mitte der 1970er Jahre. Am meisten wäre ich gefährdet, diesen Zeitraum mit seinen politischen und persönlichen Aufbrüchen zu verklären. Zum Beispiel schätze ich immer noch die Rockmusik jener Jahre – von Grateful Dead bis Neil Young – sehr viel mehr als den Punk der 1980er Jahre, der von den heute 40-50-jährigen Kollegen in ihrer Erinnerung hochgehalten wird – und natürlich mehr als stilistische Entgleisungen wie Modern Talking. Ansonsten verbinden sich die 1980er Jahre für mich sehr stark mit persönlichen Stationen des mittleren Lebensalters, etwa der Geburt meiner Tochter 1982, beruflichen Schritten als Historiker, nicht zuletzt ausgedehnten Forschungen zu den 1950er Jahren. Ich kann nicht abstreiten, dass auch ich mit positiven Gefühlen an die 1980er Jahre zurückdenke.