Pine Ridge. Am 29. Dezember 1890 mähten Soldaten fast 300 Lakota nieder. Immer noch sind die Wunden der großen Schlacht nicht verheilt.

Als die Sonne hinter den verschneiten Hügeln untergeht und schlagartig klirrende Kälte über das karge Land fegt, beginnt Thomas „Poor“ Bear am Massengrab seiner Ahnen in Chankpe Opi Wakpala zu singen. Es sind Lakota-Verse, die der 61-Jährige aus sich herauspresst, die Augen fest auf das weite Feld hinter der Schnellstraße gerichtet, die von Pine Ridge nach Porcupine führt. Hier, in der Einöde South Dakotas, hat es vor genau 125 Jahren (29.12.1890) stattgefunden, das Massaker von Wounded Knee. Der letzte große Zusammenprall von weißen Amerikanern und Indianern. Ein Drama, das bis heute nachwirkt.

Am Morgen des 29. Dezember 1890 mähten Soldaten der 7. US-Kavallerie mit ihren schweren Hotchkiss-Maschinengewehren fast 300 Lakota nieder, die unter Häuptling Big Foot auf der Suche nach Nahrung aus dem Norden geflohen waren. Männer, Frauen, Alte und Kinder eines stolzen Volkes, das unter dem Begriff der Sioux Karl-May-Lesern vertrauter ist. „Die Leichen meiner Vorfahren lagen überall verstreut“, sagt Thomas „Poor“ Bear, „sie haben sie gejagt wie die Tiere. Und sie haben unser Land geraubt.“

Nur eine Stele weist auf die Tragödie hin

25 Soldaten, die durch Kugeln ihrer Kameraden umkamen, wurden später in Washington mit den höchsten Orden dekoriert. Für Tapferkeit in der Schlacht. Tapferkeit. Schlacht. Wenn John „Yellow Bird“ Steele diese Worte hört, verengen sich unter der Armee-Veteranen-Kappe seine Augen zu Sehschlitzen. „Es gab keine Schlacht. Was hier geschah, war Mord mit Vorsatz. Der Präsident des Stammesrates der knapp 40.000 Oglala-Lakota im Pine Ridge Reservat, wo Wounded Knee liegt, und Thomas „Poor“ Bear, sein Vize, sprechen mit tiefem Groll davon, dass die Regierung erst Anfang der 90er das Massaker eingestand. Eine Entschädigung im Sinne der Indianer hat es nie gegeben. „Wir wollen unser Land zurück“, sagt „Yellow Bird“ Steele, „und das seit über 100 Jahren.“

Auf die Tragödie weist inmitten eines von einem hässlichen Drahtzahn umgebenen Rechtecks auf dem Friedhof von Wounded Knee nur eine graue Stele mit den eingravierten Namen der Opfer hin. Kein prachtvolles Denkmal, keine nationale Stätte der Trauer. „Wir wollen hier keinen Betroffenheitstourismus“, sagt Rhonda „Two Eagle“, die 1. Sekretärin des Stammesrates, „das ist das Land unserer Vorfahren.“ Und die Jungen? Verzweifeln an der Zukunft.

Die jungen Indianer sind arbeitslos, oft Alkoholiker

Denn Pine Ridge, mit 11.000 Quadratkilometern das zweitgrößte Indianerreservat in Amerika, ist das Epizentrum der Schande. Arbeitslosigkeit: 89 Prozent. Monatliches Durchschnittseinkommen: keine 500 Dollar. Tausende leben von staatlichen Zuwendungen und sind auf Kleidersammlungen und Sozialküchen angewiesen. Die Lebenserwartung der Männer liegt bei 48 Jahren, Frauen werden im Schnitt vier Jahre älter. Die Kindersterblichkeit ist zehnmal höher als im US-Durchschnitt, die Alkoholsucht alarmierend. Whiteclay, ein Kaff mit 14 Einwohnern, nur Minuten entfernt in Nebraska gelegen, versorgt das Reservat, in dem Alkoholverbot herrscht, mit fünf Millionen Dosen Bier im Jahr. Oft lautet der Ausweg: Tod.

„Wir haben eine Selbstmord-Epidemie“, berichtet Thomas „Poor“ Bear. „Allein in diesem Jahr waren es über 100.“ Darunter „Poor“ Bears 24-jährige Nichte. „Es bricht mir das Herz“, sagt der Indianer-Funktionär, „wir können der jungen Generation keine Perspektive bieten.“

„Erst vor wenigen Wochen lag morgens einer von uns im Straßengraben. Bis heute hat niemand ermittelt.“ Und wenn die Justiz doch einmal funktioniere, dann so: „Der junge Lakota war 24 und behindert. Er hatte die Intelligenz eines 12-Jährigen“, so „Poor“ Bear, „drei weiße Teenager haben ihn betrunken gemacht und erstochen. Sie wurden freigesprochen.“ Seit den 70er-Jahren hat Thomas „Poor“ Bear über 70 ungeklärte Mordfälle gezählt. Opfer waren jedes Mal Indianer.

Am Ende des Friedhofsbesuchs hat Thomas „Poor“ Bear seinen Gesang beendet und trocknet die feucht gewordenen Augen. Bevor er in seinen klapprigen Pick-up steigt, fällt ihm die Geschichte einer Familie aus Ohio ein, die einst an die Tür der Reservatsverwaltung klopfte. „Ihr Ururgroßvater war Soldat in Wounded Knee. Sie waren gekommen, um für ihn um Vergebung zu bitten.“