Berlin/Bobo-Dioulasso. Schimpansin Lolita lebte 30 Jahre lang in einem verlassenen Zoo im afrikanischen Burkina Faso – nun bekommt sie Hilfe aus Berlin.

Alles begann mit einem leisen Grunzen – und mit einem Traum. Marthe Arends war gerade in Burkina Faso angekommen, einem kleinen Staat in Westafrika, und spazierte mit einer Bekannten durch Bobo-Dioulasso, die zweitgrößte Stadt des Landes. „Plötzlich hörte ich ein ,Uuhhm, Uuhhm’ hinter mir“, erinnert sich die Berliner Tierärztin (31), die in Afrika ihre Doktorarbeit geschrieben hat. Dann entdeckte sie auf einer Mauer eine Schimpansin, ein verwahrlostes Wesen, an einer Kette gehalten.

„Lolita wollte ganz offenbar auf sich aufmerksam machen“, so Arends. Das war 2012. Es sollte der Beginn einer tiefen Freundschaft werden, für die die gebürtige Freiburgerin sogar ihren Job aufgegeben hat.

Tierärztin Marthe Arends wurde zufällig auf Schimpansin Lolita aufmerksam. Hier sitzen sie zusammen in Burkina Faso.
Tierärztin Marthe Arends wurde zufällig auf Schimpansin Lolita aufmerksam. Hier sitzen sie zusammen in Burkina Faso. © dpa | Marthe Arends

Dabei hatte ihr Doktorvater vom Institut für Parasitologie und Tropenveterinärmedizin der Freien Universität Berlin schon vor der Abreise gemahnt, sie solle sich nur auf ihre Feldstudie zu Insekten konzentrieren – und „bloß kein anderes Projekt anfangen“. Aber mit allen guten Vorsätzen war es vorbei, als Arends durch ein Mauerloch kletterte, um sich den Menschenaffen näher anzuschauen. Da stand sie plötzlich in einem verlassenen Zoo. Ein einziges Tier lebt dort noch, Lolita eben. Eine Schimpansin, mit 98 Prozent gemeinsamen Erbguts die engste Verwandte des Menschen. Stattdessen wurde sie ganz unmenschlich 30 Jahre in einem viel zu kleinen Käfig gehalten.

Affe Lolita wird an einer Kette gehalten

Seit sie vor 15 Jahren einmal ausgebüxt war, wurde ihr zusätzlich eine nur wenige Meter lange Kette umgelegt. „Ihr Gesicht war völlig vernarbt, weil sie sich vor lauter Verzweiflung ständig blutig kratzte, sie war abgemagert und wirkte apathisch“, sagt Arends, und noch heute wird sie emotional, wenn sie davon erzählt. Der Anblick sei kaum zu ertragen gewesen, so dass sie gleich wieder gegangen sei.

Aber Lolita hatte sich schon in ihren Kopf gebrannt. „In der Nacht träumte ich von ihr, hörte ihr Grunzen und sah ihre leeren Augen.“ Am nächsten Morgen wusste die Veterinärin, sie würde die Rettung der Schimpansendame zu ihrem persönlichen Projekt machen – die „Mission Lolita“ hatte begonnen.

Die heute etwa 35-jährige Schimpansin war als Baby von einer Europäerin aufgezogen worden, die allerdings wenige Jahre später das Land verließ. Sie überließ Lolita den lokalen Behörden. Eine Geldsumme, die sie hinterlegt hatte, war schnell aufgebraucht – und so wurde Lolita in den Zoo von Bobo-Dioulasso gebracht.

Andere Tiere im Zoo starben

Lolita musste 30 Jahre lang hungern und lebte lange Zeit an einer Kette in einem kleinen Käfig.
Lolita musste 30 Jahre lang hungern und lebte lange Zeit an einer Kette in einem kleinen Käfig. © dpa | Marthe Arends

Damals lebten dort noch andere Tiere, darunter Löwen, Schlangen, Antilopen und Kaimane. Aufgrund finanzieller Probleme ging der beliebte Tierpark jedoch langsam zugrunde, manche Bewohner wurden verkauft, aber viele starben: Die Löwen etwa verhungerten, die Kaimane vertrockneten. Das Skelett einer Boa erinnert noch heute an die dramatischen letzten Jahre des Zoos. Aber Lolita hat überlebt. Wie, das ist selbst Experten ein Rätsel. „Als Tierärztin ist es für mich ein Wunder, dass sie das geschafft hat“, so Arends.

Nicht nur fehlende Nahrung zehrte an den Nerven des Menschenaffen, auch die Einsamkeit und Langeweile machten ihr zu schaffen – denn eigentlich sind Schimpansen gesellige Tiere. Lolitas einziger Gefährte war und ist Mamadou Traoré, der von der Kommune als Tierpfleger angestellt ist und dafür ein winziges Gehalt bekommt.

„Das Geld reicht nicht einmal, um seine eigene Familie durchzubringen – geschweige denn, um Lebensmittel für Lolita zu kaufen.“ Vergammelte Mangos und altes Gemüse vom Markt, etwas Wasser, das war alles, was er besorgen konnte. „Mamadou liebt Lolita wie eine Tochter, aber er konnte einfach nicht mehr für sie tun“, so Arends, die ihre neue Freundin nun nach und nach mit Obst, Eiern, proteinhaltiger Nahrung, Erdnüssen und Joghurt versorgte und langsam wieder aufpäppeln konnte. Die Primatin hat sogar ein Bäuchlein und ihr Fell ist nachgewachsen.

Ende 2012 wurde Lolita von der Kette befreit

Für Lolita verschönerte Marthe Arends zusammen mit vielen Helfern den Käfig der Affendame.
Für Lolita verschönerte Marthe Arends zusammen mit vielen Helfern den Käfig der Affendame. © dpa | dpa

Genauso wichtig aber war es, die Lebensumstände Lolitas zu verbessern. Nach unzähligen Behördengängen und einem schier endlosen Kampf gegen die Bürokratie erhielt die Deutsche schließlich die Genehmigung, den Käfig umzubauen und zu vergrößern. Die Wände wurden von innen bunt bemalt, ein schwingender Autoreifen wurde aufgehängt, um Lolita die Zeit zu vertreiben. Ende 2012 war es soweit: Die Schimpansin wurde von ihrer Kette befreit. „Sie ist sofort wie wild herumgeklettert und hat vor Freude geschrien“, sagt Arends und lächelt.

Schweren Herzens musste sie 2013 abreisen, kehrte aber ein paar Monate später kurz zurück, um Lolita zu besuchen. Denn ihre Mission ist nicht beendet. Marthe Arends möchte Lolita langfristig helfen, sie umsiedeln lassen, an einen weniger trostlosen, geselligeren Ort.

Um Hilfe zu bekommen, wandte sie sich im vergangenen September an die Öffentlichkeit, hielt einen Vortrag im Berliner Tierpark. Dort wurde unter anderem die Erna-Graff-Stiftung auf den traurigen Fall aufmerksam – die Tierschützer wollen helfen. „Marthe Arends hat bereits mit unglaublichem Engagement vor Ort vieles geleistet, was nun nach ihrer Abreise wieder zu verfallen drohte“, sagt Diana Plange aus dem Vorstand der Stiftung.

Lolita soll nach Nigeria

Derzeit kämpft sie gemeinsam mit Arends darum, Lolita in die Auffangstation „Drill Ranch“ im Nachbarland Nigeria bringen zu dürfen. Vor allem der Transportflug wäre kurz, eine lange Anästhesie des geschwächten Affen nicht nötig. Aber bisher stellen sich nicht nur die Behörden in Burkina Faso quer, auch das nötige Geld fehlt. Dabei wäre der Ort ideal: Er verfüge sowohl über tiermedizinische als auch verhaltenstherapeutische Kompetenzen, was für eine Resozialisierung der Schimpansin sehr wichtig sei, so Plange.

Die „Mission Lolita“ geht also weiter: Marthe Arends hat eine Stelle als Tierärztin auf Usedom zunächst aufgegeben, um bald wieder nach Afrika gehen zu können – und ihre tierische Freundin zu retten. (dpa)