Mainz. Kita-Kinder in Mainz sollen sich gegenseitig misshandelt haben – oder doch nicht? Chronik eines Skandals, der noch nicht bewiesen ist.

Sie schaut die Besucher vor dem Arbeitsgericht nur kurz an. Sie wirkt unsicher, setzt sich direkt auf den Stuhl gegenüber der Richterbank. Sie spricht ein wenig mit ihrer Anwältin und wirkt, als ob sie am liebsten in einem tiefen Loch verschwinden würde. „So, wie ich das jetzt einschätze, sind da ganz tiefe Wunden zurückgeblieben bei ihr“, sagt Anwältin Kerstin Klein wenige Wochen nach dem Gerichtstermin über ihre Mandantin, deren Name nicht genannt werden soll.

Die Frau ist eine von sieben Erziehern, denen nach Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs unter Kindern in der katholischen Mainzer Kita gekündigt wurde. Unvorstellbar waren die Vermutungen, die vor gut einem halben Jahr die Titelblätter der Republik füllten. Zahlreiche Gerüchte über Gewalt und Erpressung kursierten. Eines davon: Die Kinder von drei bis sechs Jahren sollen sich gegenseitig Gegenstände in den Po gesteckt haben. Und die sechs Erzieherinnen und ein Erzieher sollen von all dem nichts mitbekommen haben.

Bistum Mainz entließ nach Vorwürfen alle Erzieherinnen fristlos

Das Bistum Mainz entließ sie alle fristlos wegen mangelnder Betreuung und Verletzung der Aufsichtspflicht – eine Hauruck-Aktion des Trägers der Kita. Am 11. Juni trat Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann vor die Presse, kämpfte mit den Tränen und rang um seine Worte. Er sei „fassungslos“. „Wir können uns kaum erklären, wie diese Vorfälle über einen langen Zeitraum unbemerkt bleiben konnten“, sagte Giebelmann. Auch der Kinderpsychiater Michael Huss machte bereits zeitnah die Feststellung: „Dieses Verhalten ist nicht normal. Auch wenn ich meine Berufsjahre Revue passieren lasse, fällt das eindeutig aus dem Rahmen.“

Dann die unerwartete Wendung Ende November: Die Staatsanwaltschaft hatte wegen möglicher Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflichten ermittelt, 32 Kinder und mehr als 35 Eltern und Bezugspersonen befragt, Kinderärzte, Rechtsmediziner und Sachverständige zurate gezogen. Das vorläufige Ergebnis der Ermittlungen: „Die dem Verfahren zugrundeliegenden Vorwürfe haben sich nach dem bisherigen Ermittlungsstand nicht erhärtet; es haben sich bislang überwiegend entlastende Erkenntnisse ergeben“, teilte die Staatsanwaltschaft mit.

Bistum: „Damals waren die Vorwürfe der Eltern glaubhaft“

Wenn Kerstin Klein heute das Verhalten der Kirche Revue passieren lässt, klingt sie erbost. Für sie sei der Auftritt des Generalvikars die Initialzündung gewesen, „als er gleich in der Presse verkündet hat, was stattgefunden hat und von einem "Kartell des Schweigens" sprach. Da wurde nichts hinterfragt.“

Das Bistum äußerte sich nach den vorläufigen Ergebnissen der Staatsanwaltschaft in zwei Pressemitteilungen. Das Vorgehen des Bistums sei notwendig und erforderlich gewesen, erklärt Giebelmann da. „Zum damaligen Zeitpunkt waren die Vorwürfe der Eltern glaubhaft.“ Ein Interview will Giebelmann nicht geben, bevor das Verfahren nicht vollständig abgeschlossen ist.

Wann es so weit sein wird, lasse sich noch nicht seriös sagen, erklärt die Leitende Oberstaatsanwältin Andrea Keller. Es „hängt unter anderem davon ab, ob, wann und wie sich Verfahrensbeteiligte, zum Beispiel Anwälte der Erzieher, äußern werden und ob sich daraus Anlass zu weiteren Ermittlungsmaßnahmen ergibt.“

Gefahr der „suggestiven Beeinflussung“ bei jüngeren Kindern

Wie konnten sich die Vorwürfe so ausweiten? „Generell besteht insbesondere bei jüngeren Kindern die Gefahr der suggestiven Beeinflussung, das heißt Informationen, die sie von anderen erhalten, werden als scheinbar selbst Erlebtes in die Erinnerung aufgenommen“, erklärt Kinder- und Jugendpsychiater Marc Allroggen aus Ulm.

Kerstin Klein, die bereits Akteneinsicht hatte, sagt: „Meiner Meinung nach hat vor allem eine Mutter zusammen mit einer Mitstreiterin den Skandal ins Rollen gebracht. Sie hat persönlich Erlebtes auf das Kind übertragen – so habe ich es verstanden.“

Psychiater Huss bleibt weiter skeptisch: „Ich akzeptiere, dass es so gelaufen ist, ich hadere nicht mit dem Ergebnis“, sagt er. Dennoch verweist er darauf: „Unser therapeutischer Eindruck ist, dass nicht nichts gewesen sein kann.“ Huss betreut derzeit noch rund acht Familien.

Ende November hat die Mandantin von Anwältin Kerstin Klein vom Arbeitsgericht Recht bekommen. Die Kündigung wurde für unwirksam erklärt, wegen inhaltlicher und formeller Fehler. Der Fall ist aber noch nicht erledigt. Das Bistum hat eine weitere Kündigung ausgesprochen. Auch dagegen will die Erzieherin vorgehen. Neben einem gerechten Urteil wünscht sie sich vor allem ein Signal der Kirche: „Natürlich wäre es schön, wenn eingeräumt würde, dass da zu schnell reagiert wurde.“ (dpa)