Die Morgenpost-Serie „Berliner Geheimnisse“ stellt Stadtdetails vor. Diesmal: Eine alte Lok in Schöneberg.

Kerstin Hohlfeld geht gern mit ihrer Tochter Mia spazieren. Die beiden lieben es, die Gegend zu erkunden und neue Plätze zu entdecken. Einer dieser Spaziergänge führte in den Naturpark Schöneberger Südgelände. Mutter und Tochter streiften durch den Park – und standen plötzlich vor einer Lokomotive. „Da blieb mir erst Mal die Luft weg“, sagt Kerstin Hohlfeld. „Eine Lokomotive mitten im Park!“ Die Schriftstellerin war auch deshalb so fasziniert, weil ihr Vater, Martin Hohlfeld, leidenschaftlicher Lokomotivführer ist, beziehungsweise war: Er befindet sich längst im Ruhestand.

Als der Vater sie das nächste Mal besuchen kam, unternahm sie mit ihm einen Spaziergang in den Park und zur Lokomotive. „Und nun kommt das Unglaubliche: Mein Vater kannte die Lok“, sagt Kerstin Hohlfeld. „Er hat während seiner Dienstjahre nämlich regelmäßig Dampflokomotiven zur Reparatur nach Meiningen in Thüringen überführt. Auch diese Lok ist dabei gewesen. Er hat sie anhand der Loknummer erkannt.“ Im November 1989 sei er das letzte Mal mit der Lok gefahren, erzählt die Berlinerin. „Er hat sich alle seine Dampflokfahrten aufgeschrieben – Faszination Dampflok eben.“ Im Jahr 1997 sei sie dann als „nicht betriebsfähige Heizlokomotive“ nach Berlin gebracht worden und ist seitdem Ausstellungsstück.

Der Naturgarten war 70 Jahre lang Rangiergelände

Kerstin Hohlfeld recherchierte weiter und fand heraus, dass die Lokomotive zu jenen gehört, die man Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre zu bauen begann. „Die Reichsbahn, die aus den verschiedenen Länderbahnen entstanden war, entwickelte die ‚Einheits-Dampflokomotiven’“, erklärt sie. Durch „konsequente Standardisierung“ habe man „der Vielzahl an Baureihen, Ersatzteil- und Werkstattproblemen Herr zu werden“ versucht. Das hat sie einer Broschüre entnommen, die die Park-Betreiberin Grün Berlin Park und Garten GmbH ihr auf ihre Anfrage hin zur Verfügung stellte. „Die Lokomotive gehörte zur ,Baureihe 50’, die ab 1939 gebaut wurde“, sagt Hohlfeld. Der Grund für den Baubeginn war allerdings bedrohlich: „Das hing mit den Kriegsvorbereitungen zusammen.“

Etliche Lokomotiven wurden im Krieg zerstört, einige danach modernisiert, aber ab Mitte der 70er-Jahre wurden immer mehr von ihnen ausgemustert, bis 1987 der letzten der Dampf ausging. Kerstin Hohlfeld hat auch erfahren, dass diese Lokomotive, die im Naturpark Schöneberger Südgelände steht, 1940 in Kassel gebaut wurde. „Nach dem Krieg blieb sie in der DDR. Sie tat ihren Dienst bis in die 80er-Jahre.“ Nach der Wende kauften die Eisenbahnfreunde Halberstadt das gute Stück, heute gehört sie Grün Berlin, die sie auf dem Südgelände aufstellte.

Und hierher passt sie gut. War das Grundstück doch über 70 Jahre lang ein Rangierbahnhof und Ausbesserungswerk der Reichsbahn. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Rangierbahnhof aufgegeben und musste 1952 ganz schließen. „Niemand hat sich mehr darum gekümmert, und die Natur hat sich das Gelände zurückerobert“, erzählt Hohlfeld. 1995 übergab es die Deutsche Bahn an den Senat als Ausgleichsfläche für den Bau von Verkehrsanlagen in der Stadtmitte. Die Fläche wurde zum Park umgestaltet, seit 2000 ist er öffentlich. „Es ist unglaublich, was hier alles blüht“, so Hohlfeld. „Ein Besuch lohnt sich zu jeder Jahreszeit.“ Besonders charmant findet sie die Verbindung aus alten Gleisen und Natur. „Überall verlaufen Schienen, da wachsen Blumen drüber.“ Um die Natur nicht zu stören, wird der Besucher stellenweise über einen Gittersteg geleitet.

Und inmitten all dieser Pracht steht die Lokomotive auf dem Abstellgleis, das jetzt zum Ausstellungsgleis umfunktioniert wurde. Das ist für eine alte Lok vielleicht gar nicht so schlimm, weil auf diese Weise Liebhaber wie Kerstin Hohlfeld, ihr Vater und ihre Tochter regelmäßig vorbeikommen.

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