Seoul. In keinem Land der Welt gibt es mehr Uni-Absolventen als in Südkorea. Bis dahin wird den Schülern allerdings sehr viel abverlangt.

Heute stehen über tausend Polizeieskorten an Seouls U-Bahnhöfen in Bereitschaft, die Militärübungen werden vorübergehend ausgesetzt und der Flugverkehr eingestellt. Auch die Börse öffnet später, genau wie die meisten Büros der Zehn-Millionen-Metropole – damit die Angestellten die U-Bahnen für die Oberschüler frei machen. Wenn Südkoreas Jugend zum Uni-Eingangstest antritt, der Quintessenz des konfuzianischen Bildungshungers, dann kommt ein Land auf der Überholspur für einen Vormittag zum Stillstand.

Prallgefüllter Terminkalender eines Oberschülers

Beim „Suneung“ entscheidet sich heute das Schicksal für über 630.000 junge Südkoreaner, denn die Uni-Wahl bestimmt wie in kaum einem Land über das soziale Ansehen, die Berufs- und Heiratschancen. Deshalb sind die Tempelanlagen voll von koreanischen Müttern, die für die Ergebnisse ihrer Kinder beten, und auch die Fernsehsender des Landes senden ihre Reporterteams an die Schulen, um von dem achtstündigen Prüfungsmarathon zu berichten. „Seitdem ich eingeschult wurde, war mein ganzes Leben auf diesen einen Tag ausgerichtet“, sagt der 20-jährige Im Jae-woo. Der Terminkalender des Oberschülers stellt jeden Firmenvorstand in den Schatten: Um 6.30 Uhr klingelte der Wecker, eine Stunde später fing bereits der Unterricht an. Nach dem Abendessen ging der mit einer Doppelschicht weiter: Bis 23 Uhr hockten die Schüler unter eiserner Aufsicht der Lehrer über ihren Büchern, und danach warteten noch die Hausaufgaben.

Noch in den 60er Jahren war Südkorea das sechstärmste Land der Welt, heute zählt der ostasiatische Tigerstaat zu den zehn größten Handelsmächten überhaupt. Bei dem wohl rasantesten Wirtschaftsaufschwung des 21. Jahrhunderts musste Südkorea fast gänzlich ohne natürliche Ressourcen auskommen. Also konzentrierte sich der Tigerstaat auf die Bildung seiner Bevölkerung. Diese bestand noch vor 60 Jahren zu großen Teilen aus Analphabeten. Doch mittlerweile gibt es in keinem Land der Welt mehr Uni-Absolventen, und auch beim Pisa-Test sind Südkoreas Schüler Weltmeister. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.

In Südkorea sind zweite Chancen rar

Wer es auf eine der drei Top-Universitäten des Landes schafft, hat soziales Ansehen und eine Festanstellung so gut wie sicher. Die restlichen 98 Prozent werden auf einen haifischartigen Arbeitsmarkt geworfen, der der Jugend des Landes so wenig Arbeitsplätze bieten kann wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wer zu lange auf Jobsuche ist, der wird gnadenlos ausgesiebt, und in der konformistischen Gesellschaft Südkoreas sind zweite Chancen rar gesät.

Das weiß auch Schüler Im Jae-woo. Als er damals seine 155 Prüfungsantworten abgab, war sein erster Gedanke: Zumindest ist es jetzt vorbei. Dabei ging es da erst richtig los. „Mit meinen Noten hätte mich höchstens eine mittelmäßige Uni genommen“, sagt er.

Die Eltern bestanden aber darauf, dass ihr Sohn noch ein zweites Mal am Suneung teilnimmt. Für 2000 Euro im Monat schickten sie ihn in ein Nachhilfeinstitut, in dem er ausschließlich potenzielle Prüfungsfragen paukte. „Für mich war das eine sehr schwierige Zeit“, sagt Jae-woo.

Danach werfen die Schüler die Schulbücher aus dem Fenster

Südkorea ist das einzige OECD-Land, in dem Suizid die häufigste Todesursache unter Teenagern ist. Erst im April sind zwei 16-Jährige in den Tod gesprungen. In ihrem Abschiedsbrief stand: „Wir hassen Schule.“

Am Tag des Suneung entlädt sich die Spannung in einem Ritual: Die Schüler werfen die Schulbücher aus dem Fenster. „Dieses System hat mich so frustriert, dass ich beinahe aufgegeben hätte“, sagt Jae-woo rückblickend. Auch wenn seine Prüfungsergebnisse beim zweiten Anlauf noch schlechter ausfielen, hat er seine Zuversicht wiedergefunden: „Heute bin ich mir sicher, dass es nicht nur diesen einen Weg gibt zum Erfolg und für ein glückliches Leben.“