Prof. Hartmut Juhl baut seit Jahren die Staenbank auf und verknüpft diese mit zahlreichen persönlichen Daten der Patienten. Ein Bericht über einen ungewöhnlichen Weg eines Medizin-Professors.

Hamburg. Manchmal trügt der Schein wirklich. Als Hartmut Juhl im Herbst 2005 vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement den Deutschen Gründerpreis in der Kategorie „Visionär“ verliehen bekommt, ist es mit seiner Vision beinahe schon wieder vorbei. „Meine Firma hatte noch für drei Monate Geld, dann drohte uns die Insolvenz“, erzählt der 54-jährige Medizinmanager heute, neun Jahre später, mit einem feinen, zurückhaltenden Lächeln. Hamburger Geldgeber hatten zwar signalisiert, das Unternehmen von Juhl zu finanzieren. „Unterschrieben war aber noch nichts.“

Dem gebürtigen Hamburger ist also alles andere als zum Feiern zumute, als der Minister ihm in Berlin die Hand drückt. Geschwitzt habe er, erzählt Juhl. Und gezweifelt. War es richtig gewesen, alles auf eine Karte zu setzen und sich den Unbilden eines Wirtschaftsunternehmens auszusetzen?

Dabei hatte drei Jahre zuvor alles so gut angefangen. Mit seinem ehemaligen chirurgischen Kollegen, Carsten Zornig, gründete Juhl im April 2002 das Unternehmen Indivumed. Ihr Ziel: klinische Versorgung und naturwissenschaftliche Expertise zusammenzuführen und durch den Aufbau einer Tumordatenbank sowie der Verarbeitung medizinischer Daten individualisierte Krebstherapien zu entwickeln.

Die Atmosphäre für so ein Unternehmen ist in Hamburg kurz nach der Jahrtausendwende wie geschaffen. Der bürgerliche Senat aus CDU, FDP und Schill-Partei regiert seit ein paar Monaten und will die Stadt zu einem europäischen Zentrum für Biotechnologie machen. Von einem Life-Scienes-Cluster ist die Rede, und bei der Innovationsstiftung der Stadt sitzt das Geld locker.

Das Start-up Indivumed gilt als Vorzeigeobjekt. Hamburgs neuer Regierungschef, Ole von Beust, kommt sogar zur Gründungsfeier. Ein Jahr später wird Hartmut Juhl mit dem Hamburger Gründerpreis ausgezeichnet. Noch heute zeugt die Auszeichnung davon, die versteckt hinter Büchern in Juhls Büro am Falkenried steht.

„Da mussten wir durch“, sagt Juhl. Ihm habe in jenen Wochen möglicherweise sein „Grundoptimismus“ geholfen. „Ich schaffe es fast immer, das Ganze ins Positive zu drehen - egal, worum es geht.“ Anstrengend sei das manchmal, für ihn selbst, aber auch für jene, die mit ihm zusammenarbeiteten, gibt er zu.

Aber für ihn sei das Glas nun einmal halb voll und was für andere eine Katastrophe sei, sei für ihn eine Chance die Ressourcen woanders einzusetzen. Das klingt nach Plattitüde, ist es aber nicht. Die Hamburger hielten seinerzeit Wort und aus Indivumed ist längst ein international erfolgreiches Unternehmen geworden.

Zwölf Krankenhäuser mit 25 chirurgischen Fachabteilungen gehören inzwischen zu seinen klinischen Partnern, erzählt Juhl. Hinzu komme die Zusammenarbeit mit 20 onkologischen Facharztpraxen im norddeutschen Raum. Besonders stolz ist der Medizinmanager darauf, dass Indivumed auch bereits in drei großen Krankenhäusern in den USA Fuß gefasst hat.

Wirtschaft sei zu großen Teilen Psychologie, heißt es. Und Optimismus ist manchmal genauso wichtig wie ein tolles Produkt „Vielleicht ist das die amerikanische Seite in mir“, sagt Juhl und spielt damit darauf an, das er in seiner Jugend sich eigentlich nicht habe vorstellen können, ein eigenes Unternehmen zu gründen.

Davon ist er auch nach dem Abschluss seines Medizinstudiums Mitte der 80er Jahre noch weit entfernt. Zwar geht Juhl für ein Jahr an das Lombardi-Krebsforschungszentrum der Georgetown-Universität in Washington. Aber noch ringt er mit sich, ob seine Bestimmung Chirurg oder Krebsforscher ist.

Nach seiner Rückkehr aus den USA arbeitet Juhl an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, behandelt Krebspatienten und schreibt seine Doktorarbeit. Die Chirurgische Universitätsklinik Kiel bietet ihm 1992 eine Stelle an, die ihm neben der ärztlichen Tätigkeit den Aufbau eines onkologischen Forschungslabors ermöglicht. Juhl wechselt an die Förde, operiert weiter Hunderte von Krebspatienten, macht seinen Facharzt für Chirurgie und wird Oberarzt.

Doch die Wissenschaft lässt ihn nicht los. „Forschung hat mich immer interessiert, aber als Chirurg erlebte ich die Nähe zu den Patienten.“ Neben seiner „praktischen“ Arbeit schreibt der Mediziner seine Habilitation und arbeitet neben der Klinik in seinem Labor.

Juhl ist überzeugt von der Idee, Krebserkrankungen mit einer individualisierten Therapie bekämpfen zu können. „Mit Hilfe von Antikörpern tumorspezifische Veränderungen in einer Zelle zu blockieren, das war Ende der neunziger Jahren zwar nicht mehr neu“, erzählt er. „Was fehlte, war eine Gewebedatenbank, die uns verstehen half, was einzelne Krebserkrankungen unterscheidet.“

An den genauen Zeitpunkt, wann die Entscheidung für den rein wissenschaftlichen Lebensweg fällt, kann Hartmut Juhl sich heute nicht erinnern. Wahrscheinlich, weil der Prozess fließend ist und Pflichtbewusstsein den Mediziner prägt. „Ich bin sehr davon getrieben, dass man stets zu seinem Wort stehen sollte“, sagt er. „Geht man eine Verpflichtung ein, muss man diese ernst nehmen.“

1998 jedenfalls bietet ihm die Georgetown-Universität in Washington eine Professur an. Juhl soll Früherkennungsmarker und Therapieansätze bei Magen- und Darmkrebs erforschen.

Freunde raten ihm ab, die unbefristete Stelle in Kiel aufzugeben. Angesichts der Tatsache, dass er in den USA zunächst lediglich einen Ein-Jahres-Vertrag erhalten soll und er seine Forschung über selbst einzuwerbende Drittmittel finanzieren muss, fragt so mancher: „Wie kannst Du Deine Sicherheit hier nur gegen so einen Schleudersitz eintauschen?“

Auch Juhl hat Respekt vor dem Angebot. „Ich bin kein Spielertyp und wäge lieber einmal zu viel ab“, sagt er. Doch die Chance, an einer der renommiertesten Universitäten der USA zu forschen, übt enorme Anziehungskraft auf ihn aus. „Ein Risiko einzugehen, bedeutet nicht unbedingt, blind zu sein. Ich kannte ja die Universität und einige Kollegen von meinem Forschungsjahr her.“

Juhl siedelt mit seiner Familie nach Washington über. Dort lernt er etwas, das später eine unabdingbare Voraussetzung für die Gründung von Indivumed sein wird - unternehmerisches Denken. „Die Bereitschaft, auch persönlich ein berufliches Risiko einzugehen, ist in den USA stark ausgeprägt“, sagt er. In Deutschland gehe es vor allem um „Risikominimierung“, während in Amerika die ‚Chancenmaximierung‘ im Vordergrund stehe.

Doch noch ist es nicht so weit. Juhl fühlt sich in den USA wohl. „Als ich übersiedelte, dachte ich, es wäre für immer“. Seine ersten Überlegungen, nach Deutschland zurückzukehren, hängen mit seinen Jungen zusammen. „Wir wollten nicht, dass unsere beiden Söhne dauerhaft an Schulen groß werden, an denen Waffen und Metalldetektoren zum Alltag gehören.“

Hinzu kommt, dass er - nicht zuletzt durch seine Forschungen - immer stärker von der Idee einer Tumorgewebebank und einer darauf aufbauenden individualisierten Krebstherapie überzeugt ist. Die Chance, Nägel mit Köpfen zu machen, bietet sich, als sein Freund, Prof. Carsten Zornig, kurz nach der Jahrtausendwende Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Israelitischen Krankenhauses wird.

Das Israelitische Krankenhaus gehört bei der Behandlung von Dickdarmkrebs zu den führenden Kliniken in Deutschland. Es ist also bestens geeignet, um Standards für eine Gewebeproben- und Datensammlung von Krebspatienten zu entwickeln, die international in jeder Klinik angewendet werden können. Darüber hinaus bietet die Klinik die Aussicht innovative individualisierte Krebstherapien in der klinischen Versorgung einzusetzen und weiter zu entwickeln.

Entscheidend aber ist die Verbindung zwischen Juhl und Zornig, denn die Gründung des Unternehmens ist mit erheblichen persönlichen Risiken verbunden. „Wir lernten uns bei der Arbeit in Eppendorf kennen, schätzen, zu vertrauen, und freundeten uns an, zumal wir auch weitere Berührungspunkte fanden“. Juhls Mutter hatte Zornigs Tochter in der Grundschule unterrichtet. Sein Bruder ging mit Zornig in eine Klasse. „Während unserer UKE Chirurgiezeit träumten wir bereits davon ein Forschungsinstitut zu gründen.“

Und so dreht sich der E-Mail-Verkehr zwischen den beiden Medizinern in jener Zeit um die gemeinsamen Pläne. „Es ging darum, Klinik und Forschung zusammenzubringen, aber nicht wie an der Uniklinik, wo Chirurgen abends nach der Arbeit noch forschen, sondern wo sich vielmehr jeder ganztags auf seine Hauptkompetenz konzentrieren kann.“

Es bewährt sich, dass Juhl und Zornig ähnlich „um die Ecke denken“ können und als Chirurgen die „gleiche Sprache“ sprechen. „Während bei Naturwissenschaftlern alles gerade sein muss, kann bei Medizinern auch die Fünf mal eine gerade Zahl sein.“ Also gründen die beiden zusammen mit Prof. Peter Layer, Ärztlicher Direktor des Israelitischen Krankenhauses, und Frank Oertel, der mit kaufmännischer Expertise die Firmengründung begleitete, 2002 die Indivumed GmbH. Zwei befreundete Wissenschaftler von Juhl kamen für die Gründung ebenfalls aus den USA nach Deutschland zurück und bilden bis heute das Kernteam.

Zur Wahrheit gehört, dass Juhl sich anfangs oft fragt, ob der Schritt richtig durchdacht war. Er trägt für eine vierköpfige Familie die Verantwortung und nicht nur einmal schläft er schlecht, weil ihn irrationale Ängste wach halten. Er unternimmt lange Spaziergänge und versucht, den „Riesenberg an zu bewältigenden Aufgaben in einzelne Stücke zu zerlegen, um ihn zu bewältigen“.

„Ich bin gut im Ausblenden des Negativen und im sich auf das Wichtige konzentrieren“, erzählt er. „Wenn man glaubt, gar nicht mehr weiter zu wissen, kommt meist ein Anruf, der hilft, das Problem zu lösen.“

Um ganz abschalten zu können, hört Juhl entweder in seinem Zimmer ganz laut Werke von Giuseppe Verdi, Gustav Mahler oder Giacomo Puccini. „Dann fällt alles ab und ich kann mich der Musik voll und ganz hingeben.“ Oder er bolzt auf einem Fußballfeld, meistens im Tor oder in der Verteidigung. „Früher war das mal ein Vater-Sohn-Spiel“, sagt er. „Heute treffen sich fast nur noch die Väter.“

85 Mitarbeiter beschäftig sein Unternehmen heute, sagt Juhl. 17 der Top-20-Pharmaunternehmen der Welt arbeiten mit Indivumed zusammen und erhoffen sich Erkenntnisse für Heilmittel gegen Krebs. Mehr als 20.000 Patienten haben bereits ihr Gewebe für die Biodatenbank zur Verfügung gestellt. „Sie können sich sicher sein, dass die Proben anonym bleiben.“

Im Gespräch bleibt die Stimme von Juhl in einem beruhigenden Tonfall, so wie man ihn von Ärzten her kennt. Nur hin und wieder klingt der 54-Jährige bewegt, so wie bei jemandem, der eine Mission hat. Und dann erzählt er von seinem Vater, der bei sich selbst Krebs diagnostiziert und kurz nach der Geburt des Sohnes stirbt.

„Dieses familiäre Drama war immer bei uns präsent, und vielleicht rührt daher meine besondere Affinität zu dieser Krankheit“, erzählt Hartmut Juhl. „Ich habe die Chance bekommen, etwas gegen Krebs zu tun und es ist meine Aufgabe, diese Chance maximal zu nutzen.“ Als Getriebener, bezeichnet er sich, als einer, der nicht „desertieren“ kann.

Das klingt ein wenig nach Militär und lässt die Erinnerung an den „War on Cancer“ wach werden, den US-Präsident Richard Nixon im Jahr 1971 der schrecklichen Krankheit mit dem Ziel erklärte, innerhalb der darauf folgenden 25 Jahren eine Heilmöglichkeit zu finden.

Von „Heilung“ reden Forscher wie Hartmut Juhl ungern, auch wenn der wissenschaftliche Fortschritt nicht zu leugnen ist. Aber die Hoffnung ist das: „Irgendwann wird Krebs eine chronische Erkrankung sein, die man im Griff hat und mit der man alt werden kann.“