Der spektakulärste Prozess in Südafrikas Justizgeschichte geht seinem Ende entgegen. Unklar bleibt bis zuletzt: Ist Oscar Pistorius wirklich ein Mörder? Für den Staatsanwalt ist die Sache klar.

Pretoria. Der Spitzname „die Bulldogge“ steht Gerrie Nel gut. In seinem abschließenden Plädoyer startete der Staatsanwalt jetzt den finalen Angriff auf Oscar Pistorius, der die Wahrheit seit jener verhängnisvollen Nacht im Februar 2013 stets zu seinen Gunsten verdreht habe. „Mister Pistorius hat eine Version der Wahrheit erschaffen, die so unglaubwürdig ist, dass sie nie und nimmer stimmen kann“, erklärte er der Richterin Thokozile Masipa, die vermutlich bis Ende des Monats das Urteil fällen wird.

In dem seit über fünf Monaten dauernden Mordprozess hatte das Gericht 36 Zeugen gehört, darunter auch Pistorius selbst. Er blieb hartnäckig bei seiner Aussage, er habe im Badezimmer seiner Villa im südafrikanischen Pretoria einen Einbrecher vermutet und deshalb durch die geschlossene Tür geschossen. Ein furchtbarer Irrtum sei es gewesen, ein Unfall, zu spät habe er bemerkt, dass sich seine Freundin Reeva Steenkamp im Bad befand, so Pistorius.

Während Nels Kreuzverhör hatte er sich aber auch in Widersprüche verstrickt und mehrmals auf Gedächtnislücken berufen - die nahm ihm der Staatsanwalt aber nicht ab. In seinem Plädoyer bezeichnete er den Sportler als einen „entsetzlichen Zeugen“. Nachbarn hatten während der 39 Prozesstage ausgesagt, sie hätten Frauenschreie aus Pistorius’ Haus dringen hören. Dies wäre ein Beweis, dass der heute 27-jährige Prothesensprinter wusste, auf wen er zielte als er vier Schüsse abgab.

Pistorius schreit „wie eine Frau“

Nel ist überzeugt, dass es zu einem heftigen Streit kam, bevor das 29-jährige Model im Kugelhagel starb – und plädiert deshalb auf kaltblütigen Mord. Verteidiger Barry Roux hatte im Prozess hingegen erklärt, die Zeugen wohnten zu weit weg von der Villa, um unterscheiden zu können, wer da geschrien habe. „Roux wollte angeblich einen Experten rufen, der zeigen sollte, dass Pistorius wie eine Frau schreit, wenn er Angst hat“, sagte Nel. Dieser Zeuge sei aber nie aufgetreten. Die gesamte Argumentation der Verteidigung sei „frei von jeder Wahrheit“.

Ein weiteres von Nels Argumenten ist, dass Steenkamp voll bekleidet war, als sie starb. Ihre Reisetasche mit Kleidungsstücken war gepackt, und sie hatte ihr Handy dabei, als sie ins Bad ging. Das ließe darauf schließen, dass sie das Haus nach dem Streit verlassen wollte – und dass das Paar nicht früh zu Bett gegangen sei, wie Pistorius berichtet hatte. „Diese Lügen haben einen Schneeballeffekt“, sagte Nel. „Man erzählt eine Lüge und dann noch eine, und irgendwann wird es zu viel und man muss weitermachen mit den Lügen.“

Pistorius habe bei seiner Aussage immer nur an die Konsequenzen gedacht, die seine Worte haben könnten - und nie an die Wahrheit. Stattdessen bildeten die Fakten dieses Falles aber ein „grauenhaftes Mosaik“. Er forderte das Gericht auf, Pistorius in allen Anklagepunkten schuldig zu sprechen. „Wenn ich mich bewaffne, weil ich vorhabe, jemanden zu töten, und wenn ich dann hingehe und wirklich töte, dann ist das eine vorsätzliche Tat.“ Auch wenn Pistorius gedacht habe, es handele sich um einen Einbrecher und er deshalb die Schüsse abgab, „würde ihn das nicht ebenfalls zu einem Mörder machen?“, fragte Nel.

Vor Gerrie Nels Schlussrede war ein wortgewandter und raffinierter Auftritt erwartet worden. Doch das Plädoyer des Chefanklägers lief nicht ganz so glatt, wie man es aus zahlreichen Hollywood-Filmen kennt, wenn Bösewichte bar jeden Zweifels eines Verbrechens überführt werden. Vielmehr blätterte Nel immer wieder zerstreut in seinen Unterlagen, zitierte Zeugenaussagen und analysierte haarklein jedes Detail des Verfahrens. Aber es handelt sich lediglich um Indizien, nicht um handfeste Beweise.

Pistorius‘ Glamour-Leben ist vorbei

Richterin Masipa sah sich veranlasst, den beredten Staatsanwalt zur Eile zu drängen. Pistorius, das gefallene Idol der „Regenbogennation“ Südafrika, blieb während des Plädoyers gefasst, starrte meist zu Boden, runzelte manchmal die Stirn. Auch Steenkamps Eltern June und Barry wohnten dem Termin bei – mit steinernem Blick.

Am Nachmittag erhielt Roux überraschend die Möglichkeit, eine halbe Stunde lang auf Nels Anschuldigungen zu reagieren. Er zeigte sich dabei sichtlich wütend. Das eigentliche Plädoyer der Verteidigung war für Freitag geplant. Wie Richterin Masipa letztlich entscheiden wird, ist kaum abzusehen. Da es in Südafrika kein Geschworenengericht gibt, liegt das Schicksal des einstigen Nationalhelden allein in ihrer Hand.

Mindestens 25 Jahre Gefängnis drohen Pistorius, wenn sie ihn des Mordes schuldig hält. In spätestens vier Wochen soll das Urteil fallen. Wie auch immer es ausfallen wird, das schillernde Glamour-Leben von Oscar Pistorius ist vorbei.