Die Türkei hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen: Bislang mehr als 200 Tote nach Explosion im Westen der Türkei bestätigt. Dramatischer Rettungsversuch für die Eingeschlossenen. Deutschland bietet der Türkei seine Hilfe an.

Ankara/Istanbul. Unter den Toten des verheerenden Grubenunglücks im türkischen Soma ist möglicherweise auch ein erst 15-jähriger Junge. Die Zeitung „Hürriyet“ zeigte am Mittwoch in ihrer Online-Ausgabe ein Video, auf dem ein Mann beklagt, er habe seinen 15 Jahre alten Neffen bei dem Unglück in der Zeche Soma verloren.

Energieminister Taner Yildiz widersprach hingegen: Er sagte laut „Hürriyet“, es könne nicht sein, dass ein 15-Jähriger in einem Bergwerk arbeite. Unter den Toten sei außerdem niemand mit dem von dem Mann genannten Namen.

Am Mittwochmorgen gab es mehr als 18 Stunden nach einem der schwersten Grubenunglücken Europas im Westen der Türkei einen kleinen Hoffnungssschimmer. Rettungskräfte konnten Medienberichten zufolge sechs weitere Überlebende aus der Grube gerettet. Unklar sei, ob die Männer verletzt seien. Die Kumpel hatten Glück: Auf mehr als 200 Opfer hat sich die Zahl der Todesopfer bis zum Mittwochmorgen erhöht. Energieminister Taner Yildiz sagte, die Hoffnung nehme ab, noch Überlebende zu retten.

Deutschland hat der Türkei am Mittwoch indes seine Hilfe angeboten. „Deutschland steht bereit zu helfen, wenn die Türkei das wünscht“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Er zeigte sich erschüttert über den Unfall und sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus. „Unsere Gedanken sind auch bei den Kohlekumpel, die noch eingeschlossen sind“, sagte Steinmeier. „Wir hoffen, dass auch sie gerettet werden können“.

Die türkische Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Im ganzen Land und an den türkischen Vertretungen im Ausland würden am Mittwoch die Flaggen auf halbmast gesetzt, teilte das Büro von Premierminister Recep Tayyip Erdogan mit.

Offenbar hatte ein Defekt in der Elektrik ein Feuer ausgelöst. Der Brand ist nach Angaben von Energieminister Taner Yildiz weiterhin nicht unter Kontrolle. Das Feuer brenne noch immer, sagte Yildiz am Mittwochmorgen. In Soma regieren Schock und Trauer – und bei einigen Menschen macht sich schon Wut auf die Behörden breit. Das Unglück löst eine Debatte über die Sicherheitsvorkehrungen in türkischen Bergwerken aus.

Die Grube in Soma ist einer der größten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6500 Kumpel arbeiten hier. Beim Schichtwechsel am Dienstagnachmittag befinden sich mehrere Hundert von ihnen in der Grube, als rund 400 Meter unter Tage ein Umspannwerk explodiert und in Brand gerät. Der Strom in der Grube fällt aus, die Aufzüge und die Luftzufuhr für die Arbeiter funktionieren nicht mehr. Zum Zeitpunkt des Unglücks waren nach Angaben des Energieministers 787 Arbeiter in der Zeche.

Mehrere hundert Männer sind bis zu zweitausend Meter tief unter der Erdoberfläche und vier Kilometer vom Grubeneingang entfernt gefangen. Für die Opfer und die Retter beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, den viele in dieser Nacht verlieren sollen.

Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Kreiskrankenhaus von Soma laufen unterdessen die Verwandten der Eingeschlossenen zusammen und versuchen verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren. „Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon,“ sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters, die vor der Grube auf einem Stapel Holz steht und versucht, über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg einen Blick auf die Glücklichen zu erhaschen, die erschöpft und mit rußgeschwärzten Gesichtern aus dem Bergwerk geführt werden. Isbiler wartet weiter. „Bisher habe ich noch nichts gehört.“

Erdogan sagt Auslandsreise ab

Die Behörden schicken vier Rettungsteams in die Grube, die versuchen, den Brand unter Tage zu löschen und die eingeschlossenen Bergarbeiter mit Frischluft zu versorgen. Das ganze Land fiebert mit und hofft auf gute Nachrichten. Im Fernsehen sorgt ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als „süßen Tod“ bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.

Die Regierung entsendet Energieminister Taner Yildiz nach Soma, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagt eine Auslandsreise ab und kündigt sich ebenfalls am Unglücksort an. Auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu will nach Soma reisen.

„Die Zeit läuft gegen uns“, sagt Minister Taner, der in der Nacht am Grubeneingang steht und sieht, wie die verletzten Überlebenden ins Freie gebracht werden. Tod durch Erstickung ist die größte Gefahr, sagt der Bergbau-Professor Vedat Didari von der Bülent-Ecevit-Universität im türkischen Kohlerevier in Zonguldak am Schwarzen Meer. „Wenn die Frischluftventilatoren an der Decke ausfallen, können die Arbeiter innerhalb einer Stunde sterben.“

Noch während die Rettungsarbeiten im vollen Gange sind, beginnt die Debatte über die Gründe für das Unglück. Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall und betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel groß. „Es gibt hier keine Sicherheit“, sagt der Arbeiter Oktay Berrin in Soma. „Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld.“

Kilicdaroglus Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament von Ankara mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung von Sicherherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.

Für den linken Gewrkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein „Massaker“, wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen: „Es geht nur um den Gewinn.“