Bundespräsident dringt in der Türkei auf Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit

Ankara. Schon der Schauplatz, den Joachim Gauck für seinen Auftritt gewählt hat, ist eine Provokation. Der Bundespräsident hat sich einen großen Saal der Technischen Universität Metu in Ankara ausgesucht, der Hochburg der linken türkischen Studentenbewegung. Und schon bevor Gauck ans Rednerpult tritt, ist damit klar, dass er für den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan eine unmissverständliche Botschaft mitgebracht hat.

Er nimmt sich Zeit für seinen Anlauf, Gauck beschreibt zunächst die wachsenden Verflechtungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Alltag sowie die Annäherungen im Zusammenleben in Deutschland mit inzwischen rund drei Millionen türkischstämmigen Einwohnern. Er versichert auch, dass Deutschland das Entsetzen über die Morde der rechtsextremen Terrorzelle NSU an Opfern mit türkischen Wurzeln teile und mit ganzer Kraft an die juristische Aufklärung gehe.

Und dann setzt Gauck zum Rundumschlag an: „So wie Ihnen in der Türkei nicht gleichgültig ist, was in Deutschland geschieht, ist uns auch in Deutschland nicht gleichgültig, was in der Türkei geschieht. So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken.“ Oder wenn die türkische Regierung danach trachte, Urteile in ihrem Sinne zu beeinflussen oder missliebige Urteile zu umgehen.

Er habe mit seiner Kritik keine Einmischung in innere Angelegenheiten im Sinn, beteuert Gauck. Es ist der Versuch, seine ungewöhnlich harsche Kritik noch halbwegs in diplomatische Watte zu packen. „Aus mir spricht die Sorge eines Bürgers, der nach langjährigen Erfahrungen in einem totalitären Staat zu einem Anwalt der Demokratie wurde.“ Gaucks Rede ist eine der deutlichsten Standpauken, die er in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit je im Ausland gehalten hat. Dahinter steckt vor allem bittere Enttäuschung. In der Türkei sind aus Gaucks Sicht längst gewonnene Demokratie- und Freiheitsrechte auf Erdogans Betreiben hin in den vergangenen Jahren wieder einkassiert worden, und dieser Kurs der Rückschritte lässt ihn die üblichen Rücksichten auf diplomatische Zurückhaltung über Bord werfen. „Diese Entwicklung erschreckt mich – auch und besonders, weil Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden“, sagt der Präsident vor Hunderten Studenten.

So hart Gauck auch mit Erdogan ins Gericht geht – trotz der Eskapaden des türkischen Ministerpräsidenten setzt er auf eine Fortführung der ohnehin stockenden EU-Beitrittsverhandlungen. „Wir sollten jenen, die der wechselseitigen Entfremdung das Wort reden, keine Chance lassen“, mahnt der Bundespräsident. „Das Interesse der Bürger aneinander ist ungebrochen – ja, es wächst sogar.“ Das klingt fast wie ein Aufruf an die Türken zur Abkehr von Erdogan, doch der hat die Kommunalwahlen kürzlich klar gewonnen und setzt zum Wechsel auf den Präsidentenposten nach den Wahlen im August an.