Ein gutes Jahr nach den tödlichen Schüssen auf seine Freundin Reeva Steencamp steht ab heute Oscar Pistorius vor Gericht. Der Staatsanwalt beschuldigt den Paralympics-Star des Mordes. Ein Video stellt ihn als aggressiv dar.

Johannesburg. Oscar Pistorius konkurrierte trotz seiner Beinprothesen mit den besten Sportlern der Welt. Jetzt beginnt für den südafrikanischen Sprinter, der zu den größten Sportidolen der Geschichte zählt, ein Kampf auf einer anderen Bühne. Von Montag an steht der 27-jährige Olympia-Athlet und Paralympics-Star vor einem Gericht in Pretoria.

Pistorius wird vorgeworfen, am 14. Februar 2013 seine Freundin Reeva Steenkamp vorsätzlich durch eine geschlossene Badezimmer erschossen und bei seinen Angaben danach massiv gelogen zu haben. Staatsanwalt Gerrie Nel nannte den Angeklagten einen Mann, der „bereit war, zu feuern und zu töten“. Die Art und Weise, wie Pistorius seine Freundin nach einem lautstarken Streit in seinem Haus getötet habe, deute auf ein „Maß an Vorbereitung“ hin.

Pistorius Darstellung ist völlig anders. Demnach war das Ganze ein schreckliches Versehen: Er habe einen Einbrecher in der Wohnung vermutet, Angst um die Frau an seiner Seite gehabt, die er zutiefst geliebt habe, und Angst um sich selbst. „Ich wusste, dass ich Reeva und mich schützen musste“, sagte Pistorius in einer eidesstattlichen Erklärung – bisher seine einzige Zeugenaussage. Demnach starb Reeva, ein 29-jähriges Model, in seinen Armen.

Ein Mörder, ein Held, der einen Fehler beging oder etwas dazwischen, verängstigt, aber etwas zu schnell am Abzug – das sind die Möglichkeiten, die von der zuständigen Richterin Thokozile Masipa abgewogen werden müssen. Sie hat bei ihrer Entscheidung verschiedene Optionen: Freispruch, Schuldspruch wegen Mordes oder wegen – weniger schwerwiegender – fahrlässiger Tötung. Das Fernsehen wird den Prozess live übertragen.

Verfolgen Sie hier den Prozess live:

11:55 Uhr: Gleich die erste Zeugin der Anklage hat den des Mordes angeklagten Sportstar Oscar Pistorius (27) schwer belastet. Sie habe als Pistorius' Nachbarin in der Tatnacht die heftigen Schreie einer Frau gehört und danach Schüsse, sagte Michelle Burger beim Prozessauftakt am Montag in Pretoria. Zwischen den Schüssen habe es eine größere Pause gegeben, sagte die Zeugin. Der beinamputierte Pistorius hatte bisher stets behauptet, es habe keinen Streit mit seiner Freundin Reeva Steenkamp gegeben. Auch will er die tödlichen Schüsse auf Steenkamp durch eine verschlossene Badezimmertür in der späten Nacht kurz hintereinander abgegeben haben.

11:30 Uhr: Der Staatsanwalt Gerrie Nel betonte, Indizien und Zeugen würden klar die Schuld von Pistorius belegen. Der Verteidiger Barry Roux bezeichnete die Schilderungen der Anklage als falsch: „Sie könnten nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.“

Der spektakuläre Prozess, der auf zunächst 15 Verhandlungstage angesetzt ist, wurde von mehreren südafrikanischen Fernsehsendern erstmals live übertragen.

10:50 Uhr: Nachdem eine Staatsanwältin die Anklageschrift, in der Pistorius „die unrechtmäßige und absichtliche Tötung von Reeva Steenkamp“ vorgeworfen wird, verlesen hatte, antwortete der 27-Jährige: „Nicht schuldig, Mylady.“ Auch zu den anderen Vorwürfen im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Waffengesetz erklärte sich Pistorius als nicht schuldig.

10:30 Uhr: Die Sitzung begann nach Angaben des Gerichts wegen der Abwesenheit eines Übersetzers mit 90 Minuten Verspätung. Zudem soll eine Frau versucht haben, dem Gericht neues Entlastungsmaterial über Pistorius zu übergeben.

10:00 Uhr: Der Beginn des Mordprozesses gegen den südafrikanischen Olympia-Star Oscar Pistorius verzögert sich. Mehr als eine halbe Stunde nach dem angesetzten Termin am Montagmorgen war die Richterin Thokozile Masipa noch nicht eingetroffen.

09:35 Uhr: Der Angeklagte bestreitet die tödlichen Schüsse nicht, beteuert aber, er habe in später Nacht hinter einer verschlossenen Tür einen Einbrecher vermutet.

09:20 Uhr: Die Anklage wirft Pistorius vor, seine Freundin Reeva Steenkamp am 14. Februar 2013 in seiner Villa durch die geschlossene Badezimmertür erschossen und dabei mit voller Absicht gehandelt zu haben.

09:17 Uhr: Im Gerichtssaal traf der sichtlich angespannt und nervös wirkende Angeklagte erstmals seit der Tragödie auf die Mutter des getöteten Models. June Steenkamp ließ den „Blade Runner“ bei dessen Ankunft keine Sekunde aus den Augen und suchte Blickkontakt, den Pistorius zunächst vermied.

09:13 Uhr: Die Verhandlung gegen den 27-jährigen Olympia-Athleten beginnt in Kürze.

09:00 Uhr: Zahlreiche Journalisten warten im strömenden Regen vor dem Gerichtsgebäude in Pretoria, als der des Mordes angeklagte Oscar Pistorius im schwarzen Anzug eintraf.

Pistorius drohen 25 Jahre Haft

Ein kaltblütiger Mörder, wie es die Anklage sagt, oder ein verängstigter Mann mit Beinstümpfen, der einen entsetzlichen Fehler machte? Pistorius könnte mindestens 25 Jahre hinter Gittern landen, gelingt es ihm und seinen Verteidigern nicht, das Gericht von seiner Darstellung der Ereignisse in jener verhängnisvollen Nacht zu überzeugen.

Bei dem Indizienprozess wird es in starkem Maße um die Glaubwürdigkeit des Angeklagten gehen. Die jüngste Ausstrahlung eines Videos, das Pistorius an einem Schießstand zeigt, scheint die Staatsanwaltschaft zu bestätigen, die den 27-Jährigen als aggressiv und schießwütig darstellt. Die im britischen Sender Sky News veröffentlichten Aufnahmen zeigen den Sprintstar, wie er mit einer Pistole auf eine Wassermelone schießt. Man hört im Hintergrund Lachen und Scherzen, dann die Stimme eines Mannes, der beim Anblick der explodierten Wassermelone sagt: „Sie ist viel weicher als ein Gehirn.“ Der Sender berichtete, es sei die Stimme von Pistorius.

Zugleich wird in dem Prozess alles in Zweifel gezogen, was die Welt über diesen behinderten jungen Mann – eine Inspiration für so viele – zu wissen glaubte. Eine Lebensgeschichte würde praktisch neu geschrieben. Die Familie des Angeklagten bekräftigte am Sonnabend noch einmal, dass sie voll hinter Oscar stehe, ihm glaube und ihn während des ganzen Prozesses liebevoll und stützend begleiten werde.

Es ist ein Verfahren mit vielen Facetten, Dutzende Polizisten werden aussagen, forensische und ballistische Experten sowie Psychologen. Die Toilettentür wird eine prominente Rolle spielen, die Flugbahn der vier Kugeln, die Pistorius durch sie feuerte, es wird um Blutspritzer gehen und um Handy-Telefonate. Auch die Debatte über Waffenbesitz in Südafrika spielt in den Prozess hinein, das Problem des Landes mit Gewaltverbrechen, das durchaus Ängste erzeugen kann.

Aber was letztlich zählt, ist das, was in den Stunden vor den tödlichen Schüssen um drei Uhr morgens in Pistorius vor sich ging. Was weiß man wirklich über ihn, sein Leben?

Lebensgeschichte ebenfalls im Fokus

Pistorius kam wegen eines Gen-Defekts unter anderem ohne Wadenbeine auf die Welt. Im Alter von elf Monaten werden beide Beine unterhalb des Knies amputiert. Auf seinem Weg, sich von seiner Behinderung nicht kleinkriegen zu lassen und ein Vorbild für so viele zu werden, spielte seine Mutter eine große Rolle. Der Sohn litt schwer, als sie plötzlich starb.

Er gewinnt diverse Goldmedaillen bei Paralympics und erkämpft sich schließlich über alle Hürden hinweg das Recht, bei den Olympischen Spielen in London mit unbehinderten Sportlern zu konkurrieren – mit beachtlichen Ergebnissen. Die Welt sieht einen Athleten, der vorexerziert, dass Behindertsein nicht das bedeuten muss, was viele denken – und das alles anscheinend mit Anstand und Bescheidenheit.

Aber dazwischen blitzten auch Hinweise auf eine mögliche andere Seite durch. Da gab es zum Beispiel 2009 einen Unfall mit einem Rennboot, Pistorius wurde am Gesicht verletzt, es gab Vorwürfe übermäßigen Trinkens und fahrlässigen Verhaltens. Dann, im selben Jahr, wurde Pistorius vorübergehend festgenommen: Ein weiblicher Gast bei einer Party in seinem Haus hatte ihn beschuldigt, sie tätlich angegriffen zu haben. Es kam aber zu keiner Anklage.

Schüsse aus einem Auto

2011 gab es Schlagzeilen um einen anderen Zwischenfall. Demnach soll Pistorius zusammen mit Freunden in einem Auto bei einer Verkehrskontrolle gestoppt worden und danach – beim Wegfahren – wütend durch das Schiebedach des Fahrzeuges in die Luft geschossen haben. Griff er in jener Nacht zum Valentinstag wieder zur Pistole, weil er zornig war? Das ist eine Frage, die der Staatsanwalt wahrscheinlich im Prozess aufwerfen wird.

Waffen, das scheint inzwischen klar, waren eine Leidenschaft des Angeklagten, aber wie Pistorius sagt, gaben sie ihm auch Schutz, Sicherheit. Er ist bei weitem nicht der einzige im von gewalttätigen Hauseinbrüchen geplagten Südafrika, der eine Waffe zur Selbstverteidigung besitzt.

Und in der Vergangenheit hat Pistorius davon gesprochen, wie sehr er fürchte, Opfer eines Verbrechens zu werden. Aber auf der anderen Seite stellt sich die Frage, warum er – nach eigener Darstellung – Schüsse durch die Badezimmertür abgab, ohne sich zu vergewissern, wer sich dahinter befand.

Ein vernünftiger Mensch hätte wahrscheinlich nicht viermal durch die Tür gefeuert, sagt der südafrikanische Rechtsexperte Marius du Toit, der nichts mit dem Fall zu tun hat. „Seine Handlungen waren eindeutig unvernünftig, und ich glaube, das ist sein größtes Problem.“