Die Todesschüsse auf seine Freundin machten aus dem umschwärmten Sportidol eine tragische Figur. Oscar Pistorius muss nun ein Gericht davon überzeugen, dass er kein eiskalter Mörder, sondern Opfer eines entsetzliches Irrtums ist.

Pretoria. Oscar Pistorius war immer ein großer Kämpfer. Millionen weltweit bewunderten den behinderten Südafrikaner. Denn dank eines eisernen Willens wurde er Spitzensportler, konkurrierte mit Karbon-Prothesen bei Olympischen Spielen mit den besten Läufern der Welt. Jetzt aber steht der 27-Jährige vor seiner größten Herausforderung: Er muss um sein Leben kämpfen, zumindest um sein Leben in Freiheit. Der „blade runner“ will das Gericht in Pretoria überzeugen, dass er kein Mörder ist – auch wenn es an den tödlichen Schüssen auf seine Freundin Reeva Steenkamp in der Nacht zum Valentinstag 2013 keinen Zweifel gibt.

Südafrika steht vor dem spektakulärsten Prozess seiner Geschichte. Mehr als 300 Journalisten aus aller Welt haben sich zu dem Drama um den gefallenen Helden angemeldet, allein aus den USA und Großbritannien kommen jeweils ein Dutzend Reporterteams. Mehrere TV- und Radiosender werden den Prozess zu großen Teilen live übertragen können – das Oberste Gericht der Provinz Gauteng will damit dem „außergewöhnlichen Interesse der Öffentlichkeit“ entsprechen.

Der Kabelanbieter Multi-Choice wird ab Sonntag auf einem eigens geschaffenen Pistorius-Kanal rund um die Uhr über den Fall berichten. „Die Bühne ist bereitet für den Pistorius-Zirkus“, schrieb die „Times“. Dazu passt, dass man in irischen Wettbüros auf das Urteil wetten kann – den Quoten nach ist eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch.

„Tiefe Trauer“ und „seelische Pein“

Pistorius hat das Jahr seit dem Drama in der Valentinsnacht in Freiheit verbracht. Eine Kaution machte das möglich. Er nutzte dies für manche Vergnügungen – selbst wenn er kürzlich betonte, wie schrecklich ihn „tiefe Trauer“ und „seelische Pein“ belasteten. Der Sportstar wurde an den Stränden Mosambiks und des Westkaps gesehen, zuweilen in Restaurants und Bars in Johannesburg, öfters auf dem Sportplatz. Die meiste Zeit verbrachte er im Luxus-Domizil seines Onkels in Pretoria.

Ab Montag wird er mit seinem Spitzenteam an Verteidigern, PR-Beratern und Forensikern darum kämpfen, eine drohende Strafe von 25 Jahren Gefängnis zu verhindern. Sein Fall erinnert an den spektakulären Indizienprozess gegen den Ex-Footballstar O.J. Simpson in Kalifornien. Die Ingredienzien sind ähnlich: Ein Sportidol unter schrecklichem Verdacht, viele belastende Indizien, ehrgeizige Staranwälte, Spin-Doktoren für eine extrem interessierte Öffentlichkeit und schließlich ein Prozess, der viele an TV-Realityshows oder Seifenopern erinnerte. Simpson wurde 1995 vom Vorwurf des Mordes an seiner Ex-Frau freigesprochen – bis heute glauben viele Amerikaner an ein Fehlurteil.

Zunächst sind drei Sitzungswochen angesetzt, aber es ist fraglich, ob das angesichts von allein 107 Zeugen der Anklage reicht. Letztendlich wird alles vom Urteil einer Richterin abhängen. Geschworene kennt Südafrikas Rechtssystem nicht. Richterin Thokozile Masipa (66) muss wie in einem Thriller das verwirrende Geflecht von Aussagen, Beweisen, Indizien und Analysen entwirren und gewichten – nicht um den Täter zu finden, sondern um die Tat zu verstehen.

Schüsse durch verschlossene Toilettentür

Für Pistorius spricht, dass er von Anfang an von einer tragischen Verkettung unglücklicher Umstände sprach. Spät in der Nacht habe er in seinem Haus Geräusche gehört und einen Eindringling vermutet. Im Kopf die traurige Realität Südafrikas mit seiner beängstigenden Gewaltkultur sei er in Panik geraten und habe durch die verschlossene Toilettentür geschossen. Die Polizei musste nach ersten Ermittlungen zugeben, keine klaren Beweise für einen Mord gefunden zu haben. Inzwischen scheint auch klar, dass Pistorius, wie von ihm behauptet, nur auf seinen Beinstümpfen zum Bad geeilt ist – was bestätigen könnte, dass er wie behauptet in Panik war.

Manches scheint aber scheint den Athleten zu belasten: Selbst Juristen verweisen auf den „gesunden Menschenverstand“: Wenn jemand nachts verdächtige Geräusche hört, kontrolliert er nicht als erstes, ob es die Frau oder Freundin sein könnte? Sollte sich Pistorius beim Verlassen des Bettes nicht vergewissert haben, ob Steenkamp da war oder nicht? Es wird im Prozess auch um seine Glaubwürdigkeit gehen.

Zudem schildert der 27-Jährige das Verhältnis zu der „Liebe seines Lebens“ als glücklich und harmonisch. Der Staatsanwalt glaubt aber, dass es Streit und Eifersuchtsszenen gegeben hat. Zudem stehe Pistorius im Ruf eines jähzornigen Waffennarrs. Pistorius sei nicht Opfer einer entsetzlichen Fehleinschätzung, sondern habe geplant und wissentlich gehandelt, so die Anklage.

Der Sturz des nationalen Idols bewegt die Südafrikaner zutiefst – eine Minderheit, die nicht schon vor dem Prozess eine vorgefertigte Meinung hat. Manche haben ihn schon abgeschrieben. Die Frauenliga der Regierungspartei ANC sieht einen Fall von Gewalt gegen Frauen und forderte eine harte Bestrafung von Pistorius. In einem Rechtsstaat „absolut unakzeptabel“, wertete Professor Kelly Phelps von der Universität Kapstadt diese Vorverurteilung.

Sensible Themen Südafrikas

Der Prozess berührt viele sensible Themen Südafrikas, wo erst vor 20 Jahren das rassistische Apartheid-System abgeschafft wurde. Viele meinen, Pistorius werde „mit Samthandschuhen angefasst, weil er ein privilegierter, reicher, weißer Südafrikaner ist“, so die Kolumnistin Rapule Tabane. Manche fürchten, dass das weltweite Medienspektakel um Pistorius dem Ansehen Südafrikas schaden könnte. Schließlich werde auch immer wieder die Inkompetenz von Behörden und die schreckliche Alltagsgewalt zur Sprache kommen.

Das Medienaufgebot zeugt vom weltweiten Interesse am Schicksal des gefallenen Volkshelden, den das US-Magazin „Time“ 2012 zu den 100 einflussreichsten Menschen in der Welt zählte. „Er ist der wichtigste Athlet des 21. Jahrhunderts, und deshalb bedeutet der Fall dieses Idols, dass unsere Gesellschaft ein wenig länger an Vorurteilen leiden wird“, schrieb der englische Ethik-Professor Andy Mish in der „Huffington Post“. Pistorius habe es geschafft, „das Verständnis von Behinderung“ nachhaltig zu verändern, die Tür zu einer Welt aufzustoßen, „in der Behinderung nicht mehr zählt“. Er hoffe, Pistorius könne rehabilitiert werden, schreibt Mish. Sonst drohe eine „schlechtere Welt“.