Der Vorstandschef der AOK Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, über Ärzte, falsche Pflege und das Dilemma der privaten Krankenversicherung.

Hamburg Obwohl die Praxisgebühr abgeschafft wurde, geht es den gesetzlichen Krankenkassen finanziell gut. Gleichzeitig jedoch wurden die Honorare für die Ärzte erhöht, sodass die Kassen fordern: Wenn die Mediziner mehr verdienen, müssen sie auch besser arbeiten. Das Hamburger Abendblatt sprach mit dem Vorstandschef der AOK Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, über Zuzahlungen, falsch eingesetzte Medikamente und die Gesundheitspolitik vor der Bundestagswahl.

Hamburger Abendblatt: Herr Wältermann, die Krankenkassen verfügen über Milliarden-Reserven. Gleichzeitig erhalten die Ärzte höhere Honorare. Wird jetzt für die Patienten in Deutschland alles besser?

Günter Wältermann: Gute Arbeit muss auch gut bezahlt werden. Und das wird sie. Die Vergütung drückt auch unsere Wertschätzung gegenüber den Ärzten aus. Doch die Probleme aus Sicht der Patienten sind weitgehend gleich geblieben. Es gibt in vielen Facharzt-Bereichen lange Wartezeiten, unsere Versicherten bekommen erst nach Wochen einen Orthopäden, Kardiologen oder Augenarzt zu sehen. Die Wartezeit auf einen Termin beim Psychotherapeuten in Hamburg beträgt sogar ein Jahr. Fachleute sagen, dass eine psychische Erkrankung ohne Behandlung nach einem halben Jahr beginnt, chronisch zu werden. Generell können wir aber als gesetzliche Krankenkassen nicht immer mehr Geld ins Gesundheitssystem geben, ohne dass sich dies bei der Versorgung – das gilt auch für die Krankenhäuser – und in der Qualität der Behandlung bemerkbar macht.

Die Politik hat die Praxisgebühr abgeschafft. Trotzdem ist noch keine Krankenkasse finanziell zusammengebrochen. Gehen die Bürger jetzt häufiger zum Arzt?

Wältermann: Die Abschaffung der Praxisgebühr war richtig. Sie hatte ja keine Steuerungswirkung, also weniger Arztbesuche, weil es eben pro Quartal zehn Euro kostete. Wir sind daher nicht überrascht, dass es auch jetzt keinen Anstieg gibt, weder bei der Zahl der Arztbesuche noch bei der Verordnung von Arzneimitteln. Allerdings halten wir es für dringend geboten, alle Zuzahlungen auf den Prüfstand zu stellen. Wir halten es für höchst bedenklich, dass z. B. eine Zuzahlung bei der häuslichen Krankenpflege erhoben wird. Eine Steuerungswirkung können wir ausschließen, und Einnahmen bei teilweise schwerstkranken Menschen zu erzielen, ist sozial im höchsten Maße ungerecht!

In Hamburg gibt es Stadtteile mit x Hautärzten und anderen Spezialisten an einer Straße – und es gibt Gegenden, in denen Hausärzte und Kinderärzte fehlen. Was läuft da schief?

Wältermann: Ein großes Problem, nicht nur in Hamburg! Zuständig dafür sind ja nicht die Krankenkassen, sondern die Kassenärztlichen Vereinigungen. Solange ein Arztbezirk für bestimmte Fachrichtungen nicht gesperrt ist, kann sich ein Arzt niederlassen – und Hamburg ist nach den Planungsparametern ein einziger Bezirk. Ob es aus Patientensicht gerechtfertigt ist, dass sich die Ärzte eher in gut situierten Stadtteilen niederlassen als in schwierigen, lasse ich mal dahingestellt. Aber natürlich fehlen Kinderärzte und andere Fachrichtungen in Wilhelmsburg und anderswo. In Nordrhein-Westfalen hat sich inzwischen die Politik eingeschaltet und bietet Ärzten auf dem Land Zuschüsse an.

Wenn Sie die Ausgaben für Patienten in Hamburg mit denen in Nordrhein-Westfalen vergleichen, welche Unterschiede gibt es da?

Wältermann: Nehmen wir die Arzneimittelausgaben. Hier gab es 2012 in Hamburg einen mehr als doppelt so hohen Anstieg als im Rheinland. Und es gibt eine Reihe von Alten- und Pflegeheimen in Hamburg, die ihre Bewohner, also unsere AOK-Versicherten, in hohem Maße mit Beruhigungsmitteln versorgen. Hier werden wir uns besonders den Punkt des Ruhigstellens der Bewohner, das sogenannte Sedieren, ansehen. Wir werden dann mit der Führung der Heime dazu Gespräche führen, um einerseits die Auffälligkeit zu verstehen und andererseits einen gemeinsamen Lösungsweg für die Bewohner zu erarbeiten.

In Deutschland werden in Krankenhäusern besonders viele Hüft-Operationen durchgeführt. Ist das ein Trend der alternden Gesellschaft?

Wältermann: Das ist zwar auch ein Ergebnis der älter werdenden Gesellschaft. Aber längst nicht nur. Deutschland ist Weltmeister bei Knie-, Hüft und Wirbelsäulen-Operationen. Das hat nur wenig mit der Demographie zu tun, sondern mit dem Bestreben mancher Krankenhäuser, „in die Menge zu gehen“. Ich bestreite nicht, dass das System der Krankenhaus-Bezahlung, das Fallpauschalen-System, dazu beigetragen hat. Aber wir haben letztlich zu viele Krankenhäuser, die alle dasselbe anbieten und machen. Und dabei bleibt häufig die Qualität auf der Strecke. Die Zahl der Komplikationen nach einem orthopädischen Eingriff unterscheidet sich im Laufe des ersten Jahres unter den Krankenhäusern deutlich! Wir empfehlen unseren Versicherten, sich bei Zweifeln vor einer Operation eine Zweitmeinung einzuholen. Wir bieten diesen Service kostenlos an.

Auffällig ist, dass Privatversicherte besonders fürsorglich behandelt werden. Sind Sie dafür, dass man die private Krankenversicherung abschafft, wie beispielsweise die SPD das in ihrem Modell einer Bürgerversicherung fordert?

Wältermann: Nein. Die PKV bringt sich aufgrund ihres Geschäftsmodells selbst in höchste Gefahr: Die PKV hat keine Kostensteuerungs-Möglichkeiten, mehrere private Kassen müssen immer wieder ihre Tarife elementar anheben, und für viele Versicherte sind diese dann nicht mehr zu bezahlen.

Sollte es eine Übergangsfrist von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung geben für Menschen, die ihre Prämien in der PKV nicht mehr zahlen können?

Wältermann: Das ist ein Gedanke aus der Politik. Doch das wird das Problem der PKV nicht lösen. Dieses Problem lautet ja: Versicherte werden durch die steigenden Beiträge fast in den Ruin getrieben. Wenn nun das Fenster für solche Versicherten hin zur gesetzlichen Krankenkasse geöffnet wird, dann wäre zwar vielen PKV-Versicherten geholfen. Doch nach ein paar Jahren wäre dasselbe Problem der ständig steigenden Beiträge in der PKV wieder da. Wird dann das Fenster wieder geöffnet? Wenn man sich diesem Thema tatsächlich nähern sollte, dann muss die PKV für diesen Wechsel auch die vollständigen Rückstellungen dieser Versicherten mitgeben. Insgesamt wäre dieses Vorgehen dann eine weitere staatliche Subventionierung der PKV.