Renate Voß musste in den Alsterdorfer Anstalten wie viele andere Menschen mit Behinderung besonders leiden. Sie wurde mit Medikamenten vollgepumpt und geschlagen, doch ihren Lebensmut hat sie nie verloren. Heute lebt die 70-Jährige frei und selbstständig – unterstützt von der Stiftung Alsterdorf. Peter Wenig über einen Skandal, der das Pflegewesen veränderte

Gebunden in einem hellbraunen Pappdeckel liegt, 24 Seiten stark, eine Akte auf dem Küchentisch der Zweizimmerwohnung am Braamkamp in Winterhude. Renate Voß, 70, kann die Zeilen nicht lesen, sie hat das nicht lernen dürfen in den Alsterdorfer Anstalten, dort, wo sie fast drei Jahrzehnte ihres Lebens verbracht hat. Weder Lesen noch Schreiben oder Rechnen hat man ihr beigebracht. Die braune Akte dokumentiert 28 Jahre in ihrem Leben, ein Leben wie in Gefangenschaft.

Renate Voß blickt auf die Akte und sagt: „Die haben mich über Jahre eingesperrt. Die haben mich vollgepumpt mit Medikamenten.“ Dann deutet sie auf ihren Bauch: „Da haben die mich über Tage festgeschnallt. An den Beinen auch.“

Es ist ein warmer Tag im August 1954, als die zwölfjährige Renate mit ihrer Mutter Gertrud an der Pforte der Alsterdorfer Anstalten erscheint. Hinter ihr liegt eine Odyssee durch Krankenhäuser, Heime und Pflegefamilien. Die Eltern ließen sich scheiden, als sie noch ganz klein war und ein Arzt erstmals von einer Hirnschädigung sprach. Nun soll das zur Alsterdorfer Anstalt gehörende Kinderheim Alstertal Renates neues Zuhause werde. Der Stationsarzt notiert in der Akte seinen Eindruck von der Mutter („mittlere Größe, etwas verwahrlost“) sowie seine Diagnose der Tochter („Schwachsinn mittleren Grades, Milieuschaden“).

Drei Monate später, im Oktober 1954, schreibt eine Diakonie-Schwester: „Renate ist ein geistig recht schwaches Kind.“ Im Februar 1955 stellt der „Schulbericht“ die Weiche in Sachen Bildung schon Richtung Endstation: „Voraussichtlich wird sie schulisch nur in sehr geringem Maße gefördert werden können. Es muss wohl mit einer späteren Bewahrung gerechnet werden.“ Bewahrung, das heißt im Amtsdeutsch: Anstalt für immer. Renate kommt in die „Webklasse“, darf ein bisschen handarbeiten und vor allem feudeln. Denn darin, so steht es in der Akte, sei sie wirklich geschickt.

Eine Verlegung in den Wachsaal war die härteste Strafe

57 Jahre später will Renate Voß mit dem Abendblatt über ihr Schicksal reden. Über ihr Leben in der Anstalt. Der Händedruck der kleinen Frau ist erstaunlich fest. Sie trägt blaue Jeans und ein rosafarbenes T-Shirt. Sie spricht langsam, mitunter bruchstückhaft und undeutlich. Doch ihre Wut auf die alte Anstalt ist nicht zu überhören. Sie habe es doch gleich gewusst, schon am ersten Tag: „Ich habe mich an der Treppe festgeklammert. Ich wollte da nicht rein.“

„Die Zähne“, sagt sie dann, „die haben sie mir ohne Betäubung gezogen. Ich habe geblutet wie ein Schwein.“

Detailliert dokumentiert die Akte auf eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten die Leiden der Renate Voß. Sie ist gerade 16 Jahre, als sie das erste Mal in den sogenannten Wachsaal verlegt wird, eine Baracke mit Pritschen und Gurten, die Bestrafungskammer der Anstalt. Zwei Wochen lang wird sie Tag und Nacht fixiert. Penibel hat die Schwester ihre Vergehen notiert: „Werfen eines Milchbechers gegen die Wand, recht ungehörig.“ Ihren Ruf als Querulantin hat sie da schon lange weg. Die Schwestern nennen sie in den Akten „ziemlich selbstständig, aber hinterhältig“, monieren, dass sie „zur Ordnung und Sauberkeit immer wieder ermahnt werden muss“. Bestraft wird sie vor allem dann, wenn sie sich an den Zaun wagt, der den männlichen vom weiblichen Teil in der Anstalt trennt. „Immer wieder habe ich mit Stöcken Schläge gekriegt, bis ich am ganzen Körper grün und blau war“, sagt sie. Der Wachsaal in der Baracke mit dem grotesken Name „Guter Hirte“ wird ab 1965 für 16 Jahre der unfreiwillige Wohnsitz von Renate Voß, sie pendelt zwischen der Isolierzelle („da ging nur die Tür auf, wenn das Essen kam“) und dem benachbarten Massenschlafsaal.

Akribisch hält das Personal die Medikamenten-Gaben fest: „Renate wurde isoliert, bekam 10 ccm Paraldehyd injiziert. Zur Nacht bekam sie wieder 10 ccm Paraldehyd, nachdem sie lange genug gegrölt hatte.“ Paraldehyd ist ein starkes Beruhigungsmittel. Und Ruhe ist wichtig in der Anstalt. Als Renate Voß „Verstimmungen zeigt, nur noch an ein paar Tagen gut gelaunt, lieb und nett ist“, wird die Dosis bedenkenlos erhöht. Die tägliche Ration steigt auf neun Pillen und 50 Tropfen, ein Mix aus sechs verschiedenen Psychopharmaka, Schlaf- und Beruhigungsmitteln.

In der Küche am Braamkamp sitzt an der Seite von Renate Voß Birgit Schulz. Sie hat einen Blumenstrauß zum Treffen mitgebracht, die beiden Frauen kennen und vertrauen sich seit vielen Jahren. Birgit Schulz kennt die Anstalt aus der anderen Perspektive, als Mitarbeiterin. Das Schicksal der kleinen Frau hat sie auf dem Marsch durch die Institutionen – inzwischen ist Birgit Schulz Mitglied des Vorstands in Alsterdorf – nie losgelassen.

„Renate hat sich gewehrt gegen das System, sich nie etwas gefallen lassen. Deshalb musste sie ganz besonders leiden“, sagt sie. Dennoch sei ihr Schicksal kein Einzelfall, im Gegenteil: „Den meisten Menschen mit Behinderung ist es dort bis in die 80er-Jahre hinein kaum besser gegangen. Alsterdorf war in erster Linie eine Verwahranstalt. Genau wie alle anderen Anstalten in Deutschland.“ Birgit Schulz wird ihren ersten Tag in der Anstalt nie vergessen. Im September 1977 sucht sie bis vor Beginn ihres Sozialpädagogik-Studiums einen Job. Ein Anruf bei den Alsterdorfer Anstalten genügt, sie kann sofort anfangen, die Anstalten suchen nach jeder helfenden Hand. In der Schreibstube gibt Birgit Schulz ihre Unterlagen ab, der Oberpfleger drückt ihr einen weißen Kittel in die Hand. Minuten später dreht sich fast ihr Magen um, als sie ihren neuen Arbeitsplatz betritt.

In einer maroden Baracke, 1890 erbaut, vegetieren 44 Männer mit Behinderung, teils angebunden mit Lederriemen an Heizkörpern oder Bänken. Der Geruch aus Urin, Kot und Desinfektionsmitteln ist kaum zu ertragen. Aus dem Tagesraum mit ein paar verschrammten Resopaltischen und Bänken führt der Weg vorbei an den Klos – in Nischen, ohne Türen – in den Schlafsaal. Dicht gedrängt stehen dort Eisenbetten, ohne Nachtschränke, ohne auch nur einen persönlichen Gegenstand. Für die zum größten Teil schwerstbehinderten Männer gibt es nur eine Badewanne und zwei Duschen. Viele tragen nachts Leinenbeutel, die nur morgens gewechselt werden. Ein paar Jahre zuvor waren sie noch mit Stroh gefüllt; wer eingenässt hatte, musste oft zur Strafe am nächsten Morgen auf dem staubigen kleinen Hof herumlaufen, bis der Beutel wieder einigermaßen trocken war. Das Essen wird aus Kübeln auf Plastikteller gefüllt.

„Mein erster Gedanke war nur, ich muss hier sofort wieder raus“, sagt Birgit Schulz. Wenn die „Pflegebefohlenen“, wie man die Bewohner damals nennt, morgens der Reihe nach gebadet werden, wird nur ab und an das Wasser gewechselt. Lohnt nicht, sagen manche Pfleger. Ist doch sowieso gleich wieder dreckig. Wer nicht spurt, wird schon mal härter angefasst. Oder es heißt: Dann kommst du in den Wachsaal. „Davor hatten die meisten Menschen die größte Angst“, sagt Birgit Schulz.

Es dauert ein paar Tage, bis der Schock über das Leiden in der Anstalt dem Willen nach Veränderung weicht. Birgit Schulz hört von Mitarbeitern, die sich in einem Kollegenkreis gegen die Zustände engagieren. Kollegen, die es wie sie nicht ertragen, wie Menschen mit Behinderung in Alsterdorf behandelt werden.

Im Sommer 2013 sitzen in der Kneipe Blaue Blume an der Gerichtsstraße in Ottensen vier frühere Mitglieder des Kollegenkreises an einem Tisch. Es gibt Matjesfilet mit Bratkartoffeln, genau wie früher. In der Blauen Blume traf sich in den 1970ern der Kollegenkreis, klebte Letraset-Buchstaben auf Flugblätter, organisierte Protestaktionen – und stützte sich gegenseitig. „Ohne euch“, sagt Birgit Schulz ihren ehemaligen Kollegen Horst Wallrath, Rainer Kath und Thomas Hülse, „hätte ich das alles nicht ausgehalten.“ Allesamt haben sie inzwischen im sozialen Bereich Karriere gemacht, auch getrieben von dem Gedanken, dass niemand so leben darf wie einst in den Anstalten.

Der Tag, an dem sich erstmals Widerstand formiert, ist ein Dezembertag 1975. In einem Flugblatt fordert Pfleger Wallrath, dass endlich die Planungen für ein Freizeitzentrum für die Menschen mit Behinderung vorangetrieben werden müssen. Anstaltschef Pastor Schmidt reagiert. Er spricht in einer Hausmitteilung von „einer Fülle von Halbwahrheiten“ und bestellt den Pfleger zum Rapport.

In den nächsten Monaten eskaliert der Konflikt. Der frisch gegründete Kollegenkreis prangert die Missstände in den Anstalten an, vor allem die Wohnsituation. Wallrath wird gefeuert. Es ist auch der Moment, in dem sich die Belegschaft spaltet. „Für viele waren wir die Nestbeschmutzer“, sagt Birgit Schulz. Die meisten Oberpfleger stemmen sich gegen jede Veränderung, auch in der Station, wo Rainer Kath als Zivildienstleistender lange Dienst geschoben hat: „Da wurden die Patienten morgens vor dem Duschen oder Baden erst mal mit einem Schlauch abgespritzt. Wie bei der Vorreinigung in einer Auto-Waschstraße.“

Als Kath einmal mit den Behinderten Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen will, wird er angeraunzt: „Nehmen Sie das Brett sofort weg, wir sind hier nicht zur Belustigung.“ Auch Birgit Schulz wird zurechtgewiesen, weil sie nach 18 Uhr durstigen Patienten noch etwas zu Trinken gibt. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, schnauzt der Chef-Pfleger: „Sie stören hier den ganzen Ablauf. Die Behinderten nässen dann nachts noch mehr ein.“

Ruhe und Ordnung, das ist in der Anstalt Gesetz. Und den äußeren Schein wahren, wenn es nur irgendwie geht. „Wir haben tagelang Gardinenstangen abstauben müssen, statt uns um unsere Bewohner zu kümmern“, sagt Kath. Die Pfleger wechseln häufig, viele kündigen angesichts der katastrophalen Verhältnisse schon nach ein paar Wochen. „Es wurde eigentlich jeder, der wollte, genommen“, sagt Wallrath. Eine Ausbildung hat in den 70er-Jahren nur jeder vierte männliche Pfleger. Und immer wieder schlagen Gleichgültigkeit und Frust über den Job in Sadismus um. Manche Pfleger spritzen zähflüssige Medikamente absichtlich viel zu schnell.

Auch Hunger wird bewusst als Strafsanktion eingesetzt – gerade bei Kindern. Wer zu spät zum Essen kommt, kriegt oft den ganzen Tag gar nichts mehr. Und die Mädchen, die bei Schwester Anni Kamm und Taschentuch nicht sofort vorzeigen können, müssen zur Strafe in der Ecke stehen. Von morgens bis abends.

Kaum ein Besucher hat den Mut, sich zu beschweren – die Angst ist wohl zu groß, dass es den Angehörigen dann noch schlechter gehen könnte. Die Pflegebefohlenen haben gefälligst zu spuren. Als Gertrud Voß einmal dem Stationsarzt sagt, sie wolle sich künftig mehr um ihre Tochter Renate kümmern, schreibt der Mediziner in die Akte: „Es wird der Mutter klarzumachen versucht, dass eine Entlassung für die weitere Entwicklung nicht günstig sei.“ Selbst der Wunsch nach einem eintägigen Sonderurlaub wird abgewiesen.

„Dieser Korpsgeist in der Anstalt war ganz schlimm“, sagt Horst Wallrath. Das System funktioniert nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam. Für die unangenehmen Arbeiten suchen sich die Pfleger gern besonders gefügige Behinderte aus. Sie werden zu Hilfsmädchen oder Hilfsjungs befördert, müssen Nachttöpfe leeren, Berge von Wäsche waschen oder das verschmutzte Bettzeug wechseln. Als Symbol der Macht erhalten sie Steckschlüssel, um ihre Mitbewohner am Bett zu fixieren. Als Lohn gibt es ein paar Mark Taschengeld und ab und an Sonderurlaub.

Da der Widerstand von innen kaum etwas an den Zuständen ändert, will der Kollegenkreis die Missstände öffentlich zu machen. Eine Hinterhof-Druckerei in Altona druckt im September 1978 1000 Exemplare einer Broschüre des Kollegenkreises. Auf dem Titel steht der Schriftzug „Den Armen wird das Evangelium gepredigt“ über dem Bild eines behinderten Mannes, fixiert auf einem Toiletten-Verschlag.

Als Rentnerin lebt Renate Voß endlich selbstständig und frei

Obwohl Fotos das Elend dokumentieren, bleibt öffentliches Echo weitgehend aus. Wallrath und Co. schreiben Zeitungen an, klappern in Hamburg die Redaktionen ab. Doch auch das Abendblatt hat kein Interesse. Nein, besser kein kritischer Bericht, sagt die Redaktion. Könnte ja Spenden kosten.

„Doch dann ging die Zeitbombe hoch“, sagt Wallrath bei Bratkartoffeln und Matjes. Auf zehn Seiten schreibt am 20. April 1979 das „Zeit-Magazin“ unter der Überschrift „Versteckt, verdrängt, vergessen“ über das tägliche Grauen in den Anstalten. Zum ersten Mal steht eine deutsche Anstalt für Menschen für Behinderung derart am Pranger.

„Als das ,Zeit-Magazin‘ erschien, gab es erst mal Sturmläuten“, erinnert sich Hüls. Mit Bannern wie „Vertrauen für Pastor Schmidt“ ziehen viele Mitarbeiter in die Anstaltskirche, attackieren den Kollegenkreis scharf. Die Leitung schäumt, wirft der „Zeit“ vor, „der Behindertenarbeit unermesslichen Schaden“ zugefügt zu haben. Die Politik reagiert in bewährter Manier, mit Appellen, Ausschüssen und Debatten in der Bürgerschaft. Bloß nicht sofort entscheiden. Und so muss Renate Voß noch zwei weitere Jahre im Wachsaal hausen, bis 1981.

Am Telefon meldet sich Pastor Schmidt. Hans-Georg Schmidt, von April 1966 bis zu seinem Rücktritt 1982 der Alsterdorfer Anstaltschef. Er ist jetzt 82 Jahre alt. Ja, selbstverständlich habe er Zeit. „Ich wurde ja lange genug totgeschwiegen.“

Der Weg zu Pastor Schmidt führt in die Walddörfer an die Poppenbüttler Chaussee, wo er mit seiner Frau in einer Wohnung lebt. Die Tür öffnet ein rüstiger älterer Herr in schwarzer Hose und blütenweißem Hemd. Pastor Schmidt bittet ins Wohnzimmer, komplementiert den Gast auf das schwere dunkle Ledersofa: „Entschuldigen Sie, der Sessel ist mein gewohnter Platz.“ Er spricht über seine Jugend als Pfarrersohn in der Lausitz, angefeindet von den Nazis. Von seinem Studium in Hamburg nach dem Krieg, dem Pfarrdienst in Winterhude.

Als er dann über seine Zeit in Alsterdorf redet, strafft sich sein Körper, seine Stimme wird lauter. Verbitterung wird hörbar. 16 Jahre, sagt Pastor Schmidt, habe er von morgens 7.15 bis 22 Uhr für die Anstalt gearbeitet, die Familie vernachlässigt, alles versucht, um die Lage zu verbessern: „Dass wir damals mit den von mir initiierten Diakonie-Bällen richtig viel Geld eingenommen haben, will ja keiner mehr wissen.“ Ignoriert werde das alles, genau wie die Tatsache, dass er schon ganz früh eine Außenwohngruppe mit Behinderten gegründet habe: „Da haben mich andere Anstaltsleiter für meschugge erklärt.“

Und die maroden Baracken mit den schrecklichen Wachsälen? „Glauben Sie mir“, sagt Pastor Schmidt, „ich war erschüttert, als ich die bei meinem Amtsantritt 1968 gesehen habe. Und ich hatte nur einen Gedanken: Alle Baracken müssen weg.“ Und in der Tat schrieb Pastor Schmidt Aktenvermerke, entwickelte einen „Generalbebauungsplan“. Doch selbst ein vernichtendes Gutachten des Gesundheitsamts Nord reichte 1972 nicht aus, das Leiden in der Anstalt endlich zu beenden. Akribisch protokollierten die Experten den „Stallcharaker“ der Baracken, die „Pferchung in den Schlafsälen“ und kritisierten: „Wegen Personalmangels müssen die Kinder bereits zwischen 16 und 16.30 Uhr ins Bett gebracht. Das ist eine unhaltbare Situation!“ Bitter sagt Schmidt im Rückblick: „Die Wahrheit war, dass niemand diese Schwerstbehinderten haben wollte.“

Es waren eben andere Zeiten, ganz andere Zeiten. Als Pastor Schmidt 1968 sein Amt antritt, liegt die Zeit der systematischen Tötung von Behinderten erst 25 Jahre zurück. In Alsterdorf wurden während der Nazi-Herrschaft 629 Kinder, Frauen und Männer deportiert, 508 starben durch Folter, Hunger oder Medikamentenversuche. Schmidt muss mit Pflegern zusammenarbeiten, die noch vom leitenden Oberarzt Dr. Gerhard Kreyenberg, einem besonders linientreuen Nazi, eingestellt worden waren. Auch in Alsterdorf werden NS-Verbrechen vertuscht. Kreyenberg, maßgeblich verantwortlich für die Euthanasie in Hamburg, darf weiter praktizieren und wird für sein Ausscheiden aus den Diensten der Anstalten mit Belegbetten im Alsterdorfer Krankenhaus belohnt. Noch 1964 fordert einer der furchtbarsten NS-Ärzte, Prof. Werner Catel, ungestraft, dass es jedes Jahr „2000 vollidiotische Kinder“ gebe, die besser getötet werden sollten.

Konnte man in diesem Klima eine Anstalt überhaupt reformieren? In einer Zeit, da Shows wie „Vergissmeinnicht“ oder „Der große Preis“ für die „Aktion Sorgenkind“ trommeln? „Aktion Sorgenkind“. Als ob Menschen mit Behinderung allesamt bedauernswerte kleine Geschöpfe wären. Bis zum Jahr 2000 wird es dauern, bis aus der „Aktion Sorgenkind“ endlich die „Aktion Mensch“ wird.

Und doch bleibt die eine, die entscheidende Frage: Warum setzte sich Pastor Schmidt nicht mit dem Kollegenkreis an die Spitze der Bewegung im Kampf für eine neue, eine bessere Anstalt? „Der sogenannte Kollegenkreis“, korrigiert Schmidt sofort. Nein, da ist der Pastor unversöhnlich. Die „sogenannten Kollegen“, sagt er dann, hätten den falschen Weg gewählt. Mit ihm, dem Chef, hätten sie reden müssen, statt an die Öffentlichkeit zu gehen und das Image Alsterdorfs so zu beschädigen. Einige der „sogenannten Kollegen“ hätten doch nur ein Ziel gehabt, die Diakonie, also die Kirche, aus der Anstalt herauszudrängen. Überhaupt sei die „Reduzierung Alsterdorfs auf die Wohnverhältnisse“ nicht fair. „Wunderschöne Feste“ habe man gefeiert, der „christliche Gemeinschaftsgeist“ sei überall zu spüren. „Nein“, sagt der Pastor dann, „es war nicht alles schlecht.“

Und das Schicksal von Renate Voß? „Glauben Sie mir“, sagt Pastor Schmidt, „hätte ich von den Misshandlungen gewusst, ich hätte entschlossen dazwischengehauen.“ Leider habe er in der Führung mitunter auf falsche Leute gesetzt, sich deshalb am Ende sogar selbst um die Bilanzen kümmern müssen: „Da habe ich große Enttäuschungen erlebt.“ 1982 bat Schmidt zermürbt um seine Demission. Und so prägten ausgerechnet seine Widersacher aus dem Kollegenkreis den Wandel der Alsterdorfer Anstalten zur Evangelischen Stiftung, zu einer modernen Einrichtung für Menschen mit und ohne Handicap. Birgit Schulz als Vorstand, Thomas Hülse als Leiter der Fachschule für Heilerziehung, Rainer Kath als Chef der Fachdienste der Alsterdorf Assistenz West und Horst Wallrath als Leiter einer Alsterdorf-Einrichtung in Niendorf.

Wer heute über den Alsterdorfer Markt spaziert, schreitet in eine neue Welt. Den Platz mit Kopfsteinpflaster säumen das Restaurant Kesselhaus, eine Apotheke, ein Friseur und Supermärkte, es ist ein Treffpunkt für Menschen mit und ohne Behinderung. Anstaltsmauern und Baracken sind längst verschwunden, ebenso die an eine Kaserne erinnernde Einfahrt mit Pförtnerschranke. Nur noch 170 Menschen mit Behinderung wohnen auf dem Gelände, fast 1800 werden in ganz Hamburg in eigenen Wohnungen oder in kleinen Wohn- und Hausgemeinschaften von der Stiftung Alsterdorf betreut.

Auch Renate Voß kommt gerne hierher, macht kleine Botengänge, trifft alte Bekannte. Jetzt, wo sie hier nicht mehr lebt, ist das Gelände der alten Anstalt ein Stück Heimat geworden. „Da fahre ich gerne hin“, sagt sie. Die Betreuungsvollmacht hat ein Gericht 1993 aufgehoben, sie lebt als Rentnerin nun endlich so, wie sie immer leben wollte: selbstständig und frei. Mehrere Jahre wohnte sie in einer Wohngruppe am Braamkamp, nun hat sie im gleichen Haus eine eigene Wohnung gefunden. „Um die habe ich mich selbst beworben“, sagt sie stolz. Hinter ihr brummt der betagte Kühlschrank mit HSV- und FC-St.-Pauli-Aufklebern. Sie kauft ein, fährt U-Bahn und Bus. Und vor allen Dingen lässt sie sich nichts mehr gefallen. Als ihr der Abendblatt-Fototermin zu lange dauert, sagt sie: „Schluss, gut jetzt.“ So gern würde sie richtig lesen können, ein paar Mal ist ihr passiert, dass sie auf Irrfahrt ging, weil sich ein Fahrziel mal änderte. Heute übt sie regelmäßig mit ihrem persönlichen Betreuer, trotzdem zurechtzukommen. „Renate Voß steht für viele Schicksale in den Anstalten. Sie wurden verwahrt, nicht gefördert“, sagt Birgit Schulz.

An die alte Zeit erinnert Birgit Schulz jeder Gang in ihr Vorstandsbüro in Alsterdorf im dritten Stock. Auf dem Flur hängt ein Bild, zwei Meter hoch, vier Meter breit. Gemalt hat es Werner Voigt, der mit vier Jahren als Kind einer alkoholkranken Mutter in die Anstalt kam. Nach seiner Entlassung 1983 hat er seine Leidenszeit künstlerisch verarbeitet. Im Zentrum seines Bildes steht der gekreuzigte Heiland, für Voigt ein Symbol der Vergebung. Auch Voigt will seinen Peinigern verzeihen, das hat er Freunden gesagt. Fröhliche Figuren bilden einen eigentümlichen Kontrast zu den abgebildeten Strafritualen, die Voigt mit Untertiteln beschreibt: „In der Schneiderei hat mich der Meister mit dem Bügelbrett auf den Kopf geschlagen.“

Pastor Schmidt zeigt in seiner Wohnung an der Poppenbütteler Chaussee seine Bibliothek. Rund 3000 Bücher, teils kostbare historische Erstausgaben, bedecken fast jeden freien Zentimeter an den Wänden. „Ich bin Theologe mit Leib und Seele“, sagt der Mann.

Er werde sich von den meisten Büchern bald trennen müssen, erzählt er, in den nächsten Wochen werde es sehr turbulent. Mit seiner Frau zieht er ins Betreute Wohnen.