Der Albtraum in den alten Alsterdorfer Anstalten zeigt: Behinderte gehören in unsere Mitte

Die Bilder schockieren, erinnern eher an die NS-Zeit. Menschen mit Behinderung vegetieren zusammengepfercht in großen Schlafsälen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Es gibt Misshandlungen, ständige Fixierungen, Verbannung in Strafkammern und viel zu viele Psychopharmaka. Und doch entstanden die Fotos unserer heutigen Magazin-Geschichte in den Alsterdorfer Anstalten in den 1970er-Jahren. Die Pflegebefohlenen, so wurden die Bewohner damals genannt, wurden verwahrt, nicht gefördert.

Sich den Fehlern der Vergangenheit zu stellen fordert Mut. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf beweist diesen Mut, indem sie ihre Archive für zwei Kulturwissenschaftlerinnen öffnete, die die menschenunwürdigen Zustände in den alten Anstalten aufgearbeitet haben. Am kommenden Dienstag wird ihre Studie präsentiert. Wobei es hier – und dies ist der entscheidende Unterschied zu den Verbrechen der grausamen Euthanasie-Ärzte der Nazi-Zeit – nicht mehr um die Suche nach Schuldigen geht. Die Anstalt war ein Produkt der Gesellschaft der damaligen Zeit, in der Menschen mit Behinderung fast überall in Deutschland abgeschoben wurden.

Nein, die Aufarbeitung dieser Ära ist aus einem ganz anderen Grund so wichtig. Sie zeigt einmal mehr die Gefahr, wenn Menschen mit einem Handicap in große Sondereinrichtungen abgeschoben werden. Jedes Getto, jede Isolation begünstigt Fließband-Pflege und Demütigungen. Der vermeintliche Schutzraum kann leicht zum Albtraum werden.

Schon deshalb ist der Kurs der Stiftung Alsterdorf, auch Menschen mit schwersten Behinderungen in über ganz Hamburg verteilten Wohngruppen zu betreuen, der richtige Weg. Wer mitten in unserer Gesellschaft lebt, genießt automatisch mehr Schutz. Und hat es viel leichter auf dem Weg zu möglichst großer Eigenständigkeit. Lange genug wurden Menschen mit Behinderung diskriminiert. Die ohne Frage verdienstvolle „Aktion Sorgenkind“ etwa erklärte mit ihrem Namen jeden Menschen mit Behinderung zum bedauernswerten Problemfall. Erst nach Protesten wurde sie im Jahr 2000 zur „Aktion Mensch“. Inzwischen schreiben die Vereinten Nationen die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung ausdrücklich vor.

Doch immer wieder prallen die hehren Ziele von Inklusion und Menschenrecht ungebremst auf das ganz reale Leben. Manche ertragen die mitunter auch nachts lärmenden Menschen mit Behinderung in ihrer unmittelbarer Nachbarschaft einfach nicht, ziehen sogar vor Gericht, um die Wohngruppen aus dem Haus zu klagen; die Stiftung Alsterdorf hat in den vergangenen Monaten hier auch bittere Erfahrungen machen müssen.

Und doch ist es ist wenig zielführend, jeden widerspenstigen Anwohner als Ewiggestrigen abzustempeln. Gegenseitige Toleranz und Verständnis sind von beiden Seiten gefordert: auch gegenüber Eltern, die fürchten, dass ihre Kinder nicht mehr genug gefördert werden können, weil sich die Lehrer zu sehr auf Kinder mit Behinderung konzentrieren müssen. Inklusion, auch das ist ein Teil der Wahrheit, kann nur unter den entsprechenden Rahmenbedingungen funktionieren. In überschaubaren Wohngruppen mit genügend qualifizierten und endlich angemessen bezahlten Betreuern; in kleinen Schulklassen mit engagierten Sonderpädagogen und Lehrern.

Ja, das kostet Geld, viel Geld, das im Sozialbereich irgendwo eingespart werden muss. Niemand kann wollen, dass sich die öffentlichen Haushalte noch weiter verschulden. Aber in dieser Debatte möge sich jeder an ein Wort von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker erinnern: Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.