Neben dem neuen deutschen Weltmeister Pius Heinz behaupten sich auch zwei Hamburger in Las Vegas, der Glücksspiel-Metropole.

Es klingt, als drohten 1000 Klapperschlangen mit ihrer Schwanzrassel. Wenn Hunderte Pokerspieler ihre Spielchips fingerfertig durch die Hände gleiten lassen, entsteht ein Klangteppich, den es so auf der Welt kein zweites Mal gibt. Die Hamburgerin Katja Thater sitzt an einem der Tische, auch sie hantiert mit ihren Chips. Neben ihr sitzt ein Texaner mit Cowboyhut. Er schaut sie verstohlen an und legt seine Karten auf den Tisch. Katja Thater tut dasselbe. Sie präsentiert zwei Damen. Wieder hat sie ein Spiel gewonnen.

Diese Stadt atmet Poker. Im Taxi vom Flughafen ins Zentrum fragt der Fahrer: "Kommen Sie wegen Poker nach Las Vegas?" Im Hotelzimmer liegt das "Las Vegas Magazine" auf dem Tisch, der Titel zeigt einen Mann mit Basecap, vor dem ganze Bündel von Geldscheinen auf dem Spieltisch liegen. Fährt man vom Hotelzimmer mit dem Fahrstuhl hinunter ins Kasino, sieht man überall die brechend vollen Pokerräume.

Vegas wäre aber nicht Vegas, würde die Stadt des Glücksspiels nicht wie immer trotz allen Trubels die Ruhe bewahren. Eine Ruhe, bei der Vermögen in der Luft liegen, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Mehr als acht Millionen Dollar bekommt der Gewinner des Hauptturniers der WSOP, der vor ein paar Tagen beim Final Table ermittelt worden ist: der Deutsche Pius Heinz. Er hat das goldene Siegerarmband bekommen, das Bracelet.

"Das ist das Größte. Davon träumt jeder Spieler", sagt Katja Thater. Wenn sie nicht gerade wieder irgendwo auf der Welt an einem Pokerturnier teilnimmt, wohnt sie in Eppendorf. Sie ist Deutschlands einzige Spielerin, der es bisher gelungen ist, so ein Armband zu gewinnen. Katja Thater lebt vom Pokerspielen, nebenbei betreibt sie eine Unternehmensberatung, und Pferdezüchterin ist sie auch.

Vegas ist wie ein Hechtsprung in 1000 Unterhaltungen gleichzeitig. Entlang des Las Vegas Boulevards, gemeinhin nur Strip genannt, sieht man zu allen Tages- und Nachtzeiten staunend offene Münder. Ein paar Japaner filmen den Vulkan vor dem Hotel Mirage, der Feuer speit wie der Pinatubo, eifrig mit Camcordern und Handys. Nachgestellte Naturkatastrophen haben ihren Reiz, auch wenn das - gerade für Japaner - zynisch klingen muss. Hundert Meter weiter kämpfen die Piraten vor dem Treasure Island um Goldschätze. Im Venetian fahren Gondeln durch die Kanäle, vor dem Bellagio schießen zu hymnischen Klängen die angestrahlten Wasserfontänen in die Luft. Die Leuchtreklamen der Hotels vereinigen sich zu einem blinkenden Farbenspiel wie sonst nirgends auf der Welt.

Katja Thater schläft im vornehmen Hotel Wynn. Wenn sie nicht Poker spielt, genießt sie den kühlen Pool; im Sommer ist es hier trocken und weit über 40 Grad heiß. Katja Thater spielt seit zwölf Jahren Poker. Das hat ihr Mann ihr beigebracht, indem er eines Tages im Kasino mitten in der Partie aufstand und zu ihr sagte: "Mach du mal weiter." Sie war schnell begeistert von dem Spiel, bei dem es auf viel mehr ankommt als nur auf Glück.

Gute Pokerspieler verbinden logisches Denken mit Einfühlung und Psychologie. "Es geht darum, die anderen Spieler zu studieren und ihr Verhalten zu interpretieren", sagt Katja Thater. Dieses Abchecken des Gegners nennt man den Read.

Manche ihrer Mitspieler haben Sonnenbrillen auf, damit man sie nicht so einfach "lesen" kann. Andere hören beim Spiel MP3-Player, um teilnahmslos zu erscheinen. Man muss seine Emotionen im Griff haben und darf sich nichts anmerken lassen, egal ob man nun eine gute oder eine schlechte Hand spielt. In letzterem Fall kann alles von einem Bluff abhängen. Der Read zeichnet den guten Pokerspieler aus. Ein nervöses Lidzittern - und der Traum ist zu Ende. Dieses Spiel beherrscht Katja Thater perfekt, sie ist berüchtigt dafür. Bei der WSOP spielt sie bei zwei Turnieren mit. Ansonsten zockt sie in den Pokerräumen der Kasinos schlechtere Spieler ab und verdient damit ihren Lebensunterhalt - das nennt sich Cashgame.

Und dann kommt an nötigem Rüstzeug für den Pokerspieler noch die Wahrscheinlichkeitsrechnung dazu, die pure Mathematik. Ein Beispiel vom Spieltisch: Katja Thater hält eine 10 und einen Buben in der Hand, auf dem Tisch liegen eine 9, eine 8 und eine 2. Außer ihr ist nur noch ein Gegner im Spiel, der gerade den Einsatz getätigt hat. Sie braucht jetzt eine Dame oder eine Sieben, dann hätte sie eine Straße. Sie geht davon aus, dass ihr Gegenspieler zwei Könige in der Hand hält, also das stärkere Blatt hat.

Trotzdem bleibt sie im Spiel. Leichtsinn? Sieben Karten von 52 hat sie definiert. Es bleiben 45 unbekannte, davon vier Damen und viermal die Sieben. Die Wahrscheinlichkeit, bei der nächsten Aufdeckrunde eine dieser acht Karten zu bekommen, entspricht also der Rechnung 8 durch 45, was eine Wahrscheinlichkeit von 17 Prozent ist. Bei der letzten Aufdeckrunde heißt die Rechnung dann 8 durch 44 und ergibt somit 18 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, die richtigen Karten in einer der beiden Aufdeckrunden zu erhalten, addiert sich folglich auf 35 Prozent, mehr als ein Drittel.

Das Weiterspielen lohnt sich also, wenn die Höhe des Einsatzes in günstigem Verhältnis zum Gewinn im Pot steht. Steigt die Gewinnwahrscheinlichkeit über 50 Prozent, ist Weiterspielen fast obligatorisch. "Man ist erfolgreich, wenn man es schafft, auf lange Sicht die besseren Entscheidungen zu treffen", sagt Katja Thater. Im Poker nennt man das den Long Run. Wichtig ist dabei, sich wiederholte "Hände" (Kartenkombinationen) und deren Wahrscheinlichkeiten zu merken. Am liebsten spielt sie einen Mix aus mehreren Pokervarianten. "Das hält geistig fit", sagt sie.

Aber pokern in Las Vegas heißt nicht nur rechnen, sondern auch extravagant feiern. Im Marquee, dem größten Klub im neuen Hotel Cosmopolitan, dröhnen die Bässe, dass es in der Brust vibriert, der Takt liegt bei 150 Schlägen pro Minute. Auf der Tanzfläche wischen die Leute mit ihren Armen im Rhythmus durch den dichten Disconebel, der Menschentross wirkt wie ein Krake mit Hunderten Tentakeln.

Wer es sich leisten kann, der mietet hier einen Tisch. 7500 Dollar kostet das, aber dafür sitzt und trinkt man eben im derzeit angesagtesten Klub von Las Vegas. Mögen sie doch stilvoll tanzen mit offenem Hemd da drüben im Pure, dem Klub im Caesars Palace. Mögen sie zu Techno-Beats zocken im Planet Hollywood. Wer die dreisteste und bunteste Party sucht, der muss ins Marquee. Gastgeber ist Benjamin Kang, von Beruf Pokerspieler und Kasinomanager. Er hat zwei Wohnsitze, lebt in Tschechien und in Hamburg.

Eigentlich wollte auch er an der WSOP teilnehmen, aber er verschlief morgens wegen eines gehörigen Jetlags, und da war die Anmeldefrist verstrichen. "Vielleicht bin ich ein bisschen überarbeitet in letzter Zeit", sagt Kang. 2009 hatte er noch 40 000 Dollar beim Hauptturnier der WSOP, dem Main Event, gewonnen. Insgeheim träumt er manchmal noch vom Bracelet, gibt er zu. Der 35-Jährige kann aber auch über sich selbst lachen. Er spricht langsam und bedächtig, ist ein guter Rhetoriker. Man glaubt ihm, was er sagt. Er wäre auch ein guter Verkäufer geworden.

In letzter Zeit arbeitet Kang tatsächlich viel: Seit einigen Monaten ist er auch Kasinomanager in Rozvadov, das an der tschechisch-deutschen Grenze liegt. 15-Stunden-Tage sind da normal. In Tschechien gelten relativ liberale Gesetze für Glücksspielbetreiber und günstige Steuerbedingungen. Und Kang ist froh, heute nicht mehr allein vom Pokererfolg abhängig zu sein. Als Kasinomanager jongliert er mit ganz anderen Zahlen. Er hat einen Uni-Abschluss in Betriebswirtschaftslehre und gründete nach dem Studium eine eigene Unternehmensberatung in Berlin. Er hat in seinem Leben nicht viel vermissen müssen. Und er hat selten etwas verloren.

Aber all das ist heute nicht wichtig. Benjamin Kang ist guter Laune. Vor dem Partyabend hat er im Hotel Wynn beim Bakkarat gewonnen. Jetzt wird gefeiert. Der persönliche Security-Mann geleitet ständig neue Ladys von der Tanzfläche in den VIP-Bereich, wo sie mit Champagner empfangen werden. Die Mädchen ziehen ihre Stilettos aus und tanzen auf dem Podest direkt neben Kangs Tisch. Eine Brünette wirft ihre Haare in die Luft, als säße sie ohne Helm auf einer Vespa.

Das Laserlicht schneidet durch den Raum, als bestünde es aus Lichtschwertern, dreht sich, wechselt seine Farben, seine Formen. Bei diesen Effekten braucht es keine Drogen mehr. Die Kellnerinnen huschen im knappen Höschen vorbei, bahnen sich ihren Weg durch die tanzende Meute. Wer jetzt schlappmacht, ist kein echtes Feierschwein.

Stunden später, um fünf Uhr morgens, lichtet sich der Dancefloor allmählich, die ersten Gäste gehen ins Hotel. Benjamin Kang setzt sich zu seinen Freunden an den Tisch und gießt allen noch mal nach. Sie unterhalten sich über Poker, über Vegas und über das Leben. Kang spielt am liebsten eine Pokervariante namens Omaha, er ist ein strategischer Spieler. Zwei-Karten-Poker sei ja etwas für Idioten, sagt er und grinst.

Er hat heute Nacht zwei Monatslöhne eines normal arbeitenden Menschen ausgegeben. Bald soll er ein neues Kasino in Prag aufbauen und führen. Morgen wird er zur Abwechslung mal wieder pokern. Wenn man schon mal in Vegas ist. Das Leben darf nie langweilig werden.